Trinksprüche gehören in Armenien ebenso zum guten Ton wie das anschließende Leeren der Trinkgefäße auf ex. So empfiehlt es sich zum Beispiel bei einem Besuch der Trinity Canyon Vineyards im Süden des Landes nicht nur, zuvor beim Frühstück eine gute Grundlage für die kommenden Ereignisse geschaffen zu haben. Man sollte während der Fahrt durch die kargen Berge mit dem darübergestülpten, überwältigend blauen und unfassbar weiten Himmel auch verbales Rüstzeug mitbringen, um Gastgeber Howakim Sagateljan nicht nur bezüglich seiner Gastfreundschaft zufriedenzustellen.

Das Bergkloster Norawank aus dem 12. Jahrhundert.
Foto: wikicommons / Marcin Konsek

Der Hollywood-Heimkehrer, Restaurantbesitzer in der Hauptstadt Eriwan und seit einigen Jahren auch ambitionierter Weinbauer, der drüben in den USA sein Geld mit dem diskreten Chauffieren von Filmstars gemacht hat, hört wie jeder Armenier auch gerne Loblieder auf die Schönheit seiner Heimat.

Danach gestaltet sich nicht nur der Aufstieg zum versteckt in einem Talschluss gelegenen Bergkloster Norawank aus dem 12. Jahrhundert etwas mühsam. In dem werden am Wochenende im Halbstundentakt dank hochhackiger Schuhe unter alpinen Bedingungen nicht immer trittfeste Hochzeitsgesellschaften durchgejagt.

Älteste Weinpresse der Welt

Auch eine Besichtigung des 2007 entdeckten Höhlensystems nahe dem Dorf Areni ruft Reuegefühle hervor. Ein oder zwei Trinksprüche weniger hätten es am Vormittag auch getan. Im gut im Steilhang versteckten Höhlensystem findet sich die mit mehr als 6000 Jahren wohl älteste Weinpresse der Welt. Demnächst soll sie auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich sein – wobei "breit" jetzt nichts mit dem Vormittag zu tun hat.

In der Nähe des Dorfs Areni wurde die wohl älteste Weinpresse der Welt gefunden.
Foto: wikicommons / Narek75

Apropos Wein, apropos Klöster: Für beides sollte man sich schon sehr interessieren, wenn man nach Armenien reist. Man wird um beide Realitäten ebenso wenig herumkommen wie um diverse zeitliche Verzögerungen des Reiseplans aufgrund akut auftretender Gastfreundschaft, auch unter besonderer Berücksichtigung selbstgebrannten Vogelbeerwodkas.

Ein halbstündiger Abstieg inklusive einer bedrohlich schwingenden Hängebrücke über eine Schlucht zum verlassenen, in den Hang gebauten Bergdorf Chndsoresk, das die Dorfbewohner unter Stalin einst schleifen lassen und oben an der neuen Hauptstraße wiederaufbauen mussten, weil Stalin es bezüglich seiner Untertanen gern übersichtlich hatte, geht ohne Loblieder auf die Schönheit wesentlich leichter vonstatten.

Mühsamer Aufstieg

Gut, wer Höhenangst hat, wünscht sich spätestens in der Mitte der Brücke einen Doppelten, aber so eine Besichtigung im Zeichen der Berggämse ist leichter absolvierbar als ein einstündiger Wiederaufstieg vom alten, ebenfalls verlassenen Dorf Schinuhajr. Dort unten ist man zuvor einen Nachmittag mit Sergej bei klaren Getränken zusammengesessen. Der weit über 80-Jährige ist der letzte Bewohner des Dorfes. Früher einmal, drüben in Aserbaidschan, war er Fahrer eines Sowjetministers. Nach dem Tod seiner Frau ist er zurückgekehrt in den Geisterort ohne Strom.

Sergej hat sich darauf eingerichtet, dass er hier unten sterben wird. Er kommt aufgrund eines Rückenleidens nur noch fort, wenn ihn ein entfernter Verwandter vom oberen neuen Dorf mühsam mit dem Jeep über den brutal aus dem Fels gehauenen und von Wind und Wetter malträtierten Weg holt. Das Essen bringt ein Urenkel mit dem Esel. Stolz zeigt Sergej auf dem verwahrlosten Friedhof seinen Grabstein. Er hat ihn sich schon machen lassen, weil er lieber selbst sehen will, wie das alles einmal aussieht, wenn er nicht mehr ist.

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Das Kloster Geghart wurde in einem Stück aus dem Fels gehauen.
Foto: Picturedesk / Laif Marc-Oliver Schulz

Der christliche Glaube ist in Armenien im Gegensatz zu grimmigeren Ausrichtungen der orthodoxen Kirche übrigens sehr lebensbejahend ausgeprägt. Trotz eines Besuchs im düsteren, auch aufgrund seiner Innentemperatur Gänsehaut machenden Höhlenkloster Geghart nahe der Hauptstadt Eriwan existieren in der armenisch-orthodoxen Kirche so gut wie keine Kreuzigungsdarstellungen oder Märtyrerszenen in der religiösen Kunst.

Statt des Kreuzes wird der in der Erde wurzelnde Lebensbaum gezeigt, als Fruchtbarkeitssymbol gelangt der ziemlich eindeutig mit einer Kerbe geöffnete Granatapfel zum Einsatz.

Vulkangestein

Geghart, die ehemalige Heimstatt eines vorchristlichen Wasser- und Quellkults, wurde ab dem vierten nachchristlichen Jahrhundert über zahllose Generationen in einem einzigen Stück aus dem durch den Ruß der Wachskerzen beinahe schwarz eingefärbten Fels des weichen Vulkangesteins gehauen.

Freunde des Schweizer Horrorkünstlers H. R. Giger dürften ebenso auf ihre Kosten kommen wie Kunsthistoriker. Besonders intensiv wird es, wenn man Zeuge eines Vokalkonzerts in den hallenden Gewölben wird. Die armenische Liedkunst ist nicht von überschwänglichem Enthusiasmus hinsichtlich Spiel, Spaß und guter Laune geprägt.

Die Eriwaner Kasakade, gewaltiger Treppenkomplex aus hellem Travertinstein.
Foto: wikicommons / Marcin Konsek

In der Hauptstadt bieten sich schließlich auch leichtere Unterhaltungsmöglichkeiten an. Die Eriwaner Kaskade beherbergt, unterirdisch über endlose Rolltreppen den Hausberg hinaufführend, die närrische Skulpturensammlung eines Milliardärs. Vor dem Parlament gibt es jeden Abend ein Springbrunnenkonzert mit Klassikkitsch.

Zwei große Kognakfabriken mit Verkostungsführungen weisen darauf hin, dass der armenische Kognak weltberühmt ist. Und wenn mir jetzt noch einer sagen könnte, wie das Zuckerlgeschäft heißt, in dem die Modelleisenbahnen durch den Saal brausen, spendiere ich einen Vogelbeerwodka. (Christian Schachinger, RONDO, 9.9.2016)