Thomas Geierspichler: "Ich habe gedacht, das können bestimmt nur ein paar Auserwählte machen und nicht ich, der Anifer Bauernbua."

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STANDARD: Sie treten in Rio zum fünften Mal bei Paralympics an. Was fasziniert Sie an Ihrem Sport?

Geierspichler: Sport ist so eine schöne Sache. Ich habe in einem Musikvideo von Rage Against the Machine Rennrollstuhlfahrer gesehen, die den Berg runtergefahren sind. Da habe ich mir gedacht: Geil. Aber, das können bestimmt nur ein paar Auserwählte machen und nicht ich, der Anifer Bauernbua. Dann habe ich den Rennrollstuhlfahrer Christof Etzlstorfer kennengelernt und einen Schnupperkurs gemacht. Da war für mich klar, ich will Sport machen. Darin habe ich eine Freude, Ziele und Visionen gefunden.

STANDARD: In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Klassen zusammengelegt, um den Behindertensport publikumswirksamer zu machen. Wie stehen Sie dazu?

Geierspichler: Es werden unterschiedliche Behinderungen zusammengefasst. Das geht nicht. Damit nimmt man gerade den Schwerbehinderten, die Möglichkeit, konkurrenzfähig zu sein. Sie sind die Verlierer der Zusammenlegungen. Die Vision von Ludwig Guttmann, der die Stoke Mandeville Games, die Vorläufer der Paralympics, erfunden hat, war, dass sich Gleichgesinnte unter fairen Bedingungen messen können. Deswegen gab es unterschiedliche Klassen. Dann gab es das Bestreben, paralympischen und olympischen Sport immer mehr zusammenzuführen, was super ist. Aber irgendwann hieß es, es gebe schon ein bisschen viele Klassen, und es wurde zusammengelegt. Im Judo gibt es auch sieben Klassen, da ist es kein Problem.

STANDARD: Inwiefern sind Sie von Zusammenlegungen betroffen?

Geierspichler: Ich muss gegen Leute fahren, die bessere körperliche Voraussetzungen haben. Meine Gegner haben teilweise nicht derartige Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem wie ich. Ich erreiche maximal einen Puls von 145, mein Lungenvolumen ist limitiert. Das sind Auswirkungen meiner Querschnittlähmung. Ich bin stolz, dass ich noch einigermaßen konkurrenzfähig bin. Ich trainiere vier bis sechs Stunden am Tag. Irgendwann sind Leute wie ich sowieso weg, dann hat man den Vergleich nicht mehr.

STANDARD: Der Behindertensport wird immer professioneller. Eine Schattenseite der Professionalisierung ist das Thema Doping ...

Geierspichler: Das gibt es im Nichtbehindertensport auch. Je mehr Geld im Spiel ist, desto mehr gibt es den Drang, zu betrügen.

STANDARD: Wie oft werden Sie getestet?

Geierspichler: Total unrhythmisch. Es kann dreimal, es kann zehnmal im Jahr sein.

STANDARD: Apropos Doping: Im Gegensatz zu Olympia wurden die Russen von den Paralympics ausgeschlossen. Eine gerechte Entscheidung?

Geierspichler: Es wurde mit zweierlei Maß gemessen. Wenn man nachweisen kann, dass Leute gedopt sind, dann gehören sie ausgesperrt. Eigentlich ist es eine mutige Entscheidung, aber warum werden die Behinderten ausgeschlossen und die Nichtbehinderten nicht?

STANDARD: Auch der Materialsektor ist ein großes Thema, etwa Karbonprothesen. Inwieweit sind auch Rollstühle von der Materialschlacht betroffen?

Geierspichler: Es gibt immer Weiterentwicklungen. Aber man darf sich nicht narrisch machen. Ich glaube, dass das Training das Alzerl ausmacht. Man versucht natürlich das eine oder andere zu verbessern, etwa die Kugellager. Karbonräder gibt es sowieso, man muss sich nur für eine Art entscheiden. Einen gewissen Materialstandard muss man erfüllen, um konkurrenzfähig zu sein.

STANDARD: Sind Sie ein Tüftler, was das Material angeht?

Geierspichler: Ich habe jahrelang viel herumgetüftelt. Sehr wichtig sind die Handschuhe. Ich glaube, ich war der Erste, der Karbonhandschuhe hatte. Es sind eigentlich Schalen, darauf habe ich rutschfeste Gummimatten montiert. Auf dem Treibring ist auch eine rutschfeste Gummimatte. Man greift nicht, sondern man treibt mit der Faust an.

STANDARD: Der Behindertensport steht nur alle vier Jahre in der Öffentlichkeit. Wie könnte man mehr Aufmerksamkeit lukrieren? Sollte es mehr Veranstaltungen gemeinsam mit Nichtbehinderten geben?

Geierspichler: Das gab es früher schon mehr. Ich glaube, früher hat man sich weniger Gedanken gemacht und die Rollstuhlfahrer einfach starten lassen. Beim Salzburg-Marathon zum Beispiel habe ich mich ein bisschen reingedrängt. Und jetzt funktioniert's, wir fahren einfach ein paar Minuten früher weg. Ich kann den Zettel eh unterschreiben, falls es mich aufstellt.

STANDARD: In London war das Publikumsinteresse groß – besteht die Gefahr eines Rückschritts in Rio?

Geierspichler: Bei Olympia hat man schon gesehen, dass es kein Fortschritt war. Ich glaube, dass der Peak mit Peking und London erreicht war. Was soll noch besser werden als in London? Aber muss es noch besser werden? Wo soll denn die Reise hingehen? In London waren die Stadien teilweise ausverkauft. Ansonsten sind wir leere Ränge gewohnt.

STANDARD: Ihre Lieblingsdisziplin, der Marathon, ist seit 2012 nicht mehr paralympisch – Sie starten in Rio über 400 und 1500 m. Welche Chancen rechnen Sie sich aus?

Geierspichler: Ich kann nur mein Bestes geben. Ich hau mich natürlich voll rein. Man muss als Erster über die Ziellinie fahren wollen, damit man die maximale Energie freisetzen kann. Und dann sieht man eh, wofür es reicht. Ich habe super trainiert. Ich habe versucht, mich so gut wie möglich mit diesen Distanzen zu arrangieren. Es ist nicht unrealistisch, eine Medaille zu machen.

STANDARD: Sie haben schon so viel gewonnen, welche Bedeutung hat eine Medaille für Sie noch?

Geierspichler: Bronze im Marathon in Sydney war für mich unerwartet, ich war überwältigt. Dann wollte ich einmal die Bundeshymne hören, das habe ich in Athen geschafft. Normalerweise wäre hier die Reise vorbei gewesen. Aber dann habe ich so viel Gefallen an dem Sport gefunden, dass ich weitergemacht und in Peking sensationell Marathongold gewonnen habe. Da habe ich erstmals verstanden, was "von Herrlichkeit zu Herrlichkeit" heißt. Es war nur mehr geil. Über Bronze in London habe ich mich so gefreut wie über meine erste Medaille. Ich bin schon so lange dabei, aber ich schaffe es immer noch, etwas aus mir herauszukitzeln. Würde ich in Rio wieder eine Medaille machen – ich würde durchdrehen, zum Rearen anfangen.

STANDARD: Wie lange wollen Sie noch Spitzensport betreiben?

Geierspichler: Ich fahre auf jeden Fall noch zwei Jahre weiter, danach entscheide ich, ob ich noch einmal zwei Jahre dranhänge oder ob ich etwas anderes mache. (Birgit Riezinger, 7.9.2016)