Wien – Unter Künstlern herrscht traditionell enormer Musenverschleiß. Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit hat in seinem Buch der Könige rekonstruiert, wie die Herren ihre Liebhaberinnen als Inspirationsquellen verwenden und verbrauchen. In den Fundamenten vieler großer Werke bleibt eine verlassene Frau zurück, die ihre Funktion erfüllt hat. Das asymmetrische Produktionsverhältnis, das Theweleit beschreibt, greift nicht ausnahmslos. Aber die Reihe von Frauen, die etwa für Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Picasso und, noch einmal anders, Kafka, als Geburtshelferinnen des jeweiligen Werks fungiert haben, ist bestürzend.

Einen Schritt voraus: Katharina Lorenz als Lou Andreas-Salomé.
Foto: Polyfilm

Die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, 1861 in St. Petersburg geboren, hat dieses Opfer rigoros verweigert, obwohl sie Muse für Rainer Maria Rilke und Friedrich Nietzsche war. Stattdessen hat sie, so interpretiert es Cordula Kablitz-Post in Lou Andreas-Salomé, ihr Leben und Werk nach eigenen Maßgaben gestaltet.

Erzählt wird ihre Biografie als Geschichte eines lebenslangen Selbstermächtigungsprozesses in aufs Wesentliche verdichteten Schlüsselszenen. Immer wieder kollidieren gesellschaftliche Anforderungen und Konventionen mit dem bis zum Schluss unverwüstlichen Freiheitsdrang einer Frau; eine Verweigerung, die – der Film verschweigt es nicht – materielle Absicherung voraussetzt.

Die Keimzelle wird, das weiß das Genre des Biopics so gut wie die Psychoanalyse, in der Kindheit gelegt. Lou klettert als junges Mädchen (Helena Pieske) auf einen Baum, will hoch hinaus. Sie fällt – und steht wieder auf, aufgerichtet vom geliebten Vater, der noch während ihrer Kindheit stirbt. Mit 16 Jahren tritt sie aus der Kirche aus und wendet sich der Philosophie zu. Der liberale Pastor bringt ihr Aristoteles nahe, macht ihr einen Heiratsantrag und wird übergriffig. Eine traumatische Erfahrung und Urszene.

Wild Bunch Germany

Dass es Kablitz-Post gelingt, das Leben ihrer Protagonistin (Katharina Lorenz) nicht zu verflachen, liegt auch daran, dass das schriftstellerische Werk Andreas-Salomés eben nicht sein Thema ist: Es geht um jene Beziehungskonstellationen, die von ihr eingegangen werden. Paul Rée und Friedrich Nietzsche machen der Angebeteten Heiratsanträge, Andreas-Salomé aber will nicht nur Muse sein, sondern fordert Gleichwertigkeit. Die Ehe degradiere die Frau zum Besitz des Mannes, Sex erscheint als Machtinstrument – mit einem Kind wäre der Weg zur Schriftstellerin und Philosophin versperrt. Immer wieder entzieht sie sich – die Szenen, die von der einzigartigen Ménage-à-trois zwischen ihr, Rée und Nietzsche erzählen, gehören zu den stärksten des hervorragend besetzten Films.

Unglückliche Männer

Nietzsche – Alexander Scheer spielt ihn an der Grenze zur Karikatur – rauscht in seinem vergeblichen Drängen dem Irrsinn entgegen. Der suizidale Paul Rée (Philipp Hauß) wird von Andreas-Salomé ins Unglück gestürzt, und der hypochondrische Rilke, von Julius Feldmeier als feminine Erscheinung gespielt, wird in der Liebe zu ihr zwar zum Dichter, aber dann von ihr verlassen.

Kablitz-Post erzählt dies nicht als feministische Heldinnengeschichte, sondern erhält die Komplexität, die auch Andreas-Salomés psychoanalytische Schriften auszeichnet, und wird auch in diesem Sinn ihrer Heldin gerecht.

Darüber hinaus lässt dieser Film eine Welt der Geisteswissenschaft lebendig werden, die spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg zum Verschwinden gebracht wurde. Lou Andreas-Salomé starb 1937. Die Aktualität ihrer Biografie und damit auch dieses Films liegt in dem radikalen Versuch, gesellschaftlichen Zurichtungen mit aller Kraft zu entrinnen. (Benjamin Moldenhauer, 8.9.2016)