"First Lady" Natalie Portman in Pablo Larraíns Film "Jackie".


Foto: Venedig Filmfestival

Eines kann man der 73. Ausgabe der Mostra von Venedig nicht unterstellen: Dass auf die Mannigfaltigkeit des Kinos keine Rücksicht genommen wurde. Von Ana Lily Amirpours postapokalyptischem Kannibalendrama The Bad Batch gibt es keine gerade Linie zu Stéphane Brizés nuancierter Guy-de-Maupassant-Verfilmung Une vie. Auch Pablo Larraíns Jackie, in dem es um die bleierne Zeit nach der Ermordung John F. Kennedys geht, umschließt eine ganze Welt. Doch dazu erst später.

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Denn ein Film hat es mit singulärer Maßlosigkeit gleich mit der gesamten Evolutionsgeschichte aufgenommen: Terrence Malicks Voyage of Time. Die Grundidee dazu soll der US-Regisseur schon in den 1970er-Jahren entwickelt haben. Gerüchteweise hieß es, dass er über Jahrzehnte an den entlegensten Winkeln der Erde Bilder für den Film gesammelt hat. Viel davon dürfte in seine Ode auf die schöpferische Kraft der Natur nicht Eingang gefunden haben, denn die makellose HD-Qualität der Bilder ist auf dem Stand der Zeit.

Kindliches Staunen

Voyage of Time, der in einer regulären Fassung und einer kürzeren im Imax-Format ins Kino kommen wird, wirkt auf den ersten Blick wie eine verlängerte Version der Evolutionssequenz aus The Tree of Life. Doch ohne erzählerische Verankerung tritt das Ansinnen des Filmemachers noch deutlicher hervor als in den letzten Arbeiten. Voyage of Time ist ein Film, der sich dem Formenwandel des Lebens überlässt und die Zuseher in den Zustand kindlichen Staunens zurückversetzt.

Es ist Kino, das ein ozeanisches Gefühl der Unendlichkeit wecken, kein wissenschaftlicher Traktat sein will. Man wird nicht nur an den Ursprung des Lebens geführt, sondern auch an jenen des Mediums selbst, als es noch Jahrmarktsattraktion war und Ein- und Ausblicke in und auf die Welt lieferte. Sternformationen, galaktisches Blubbern, Lavaströme, Quallentänze, animierte Dinosaurier, schließlich der nackte Urmensch (und seine List), dessen Bauten Malick in einem Kubrick'schen Manöver auf eine moderne Großstadt schneidet. Im Zeitalter der millionenfach geteilten Bilder sucht Malick majestätische Größe in der technisch ausgefeiltesten Form.

Sein Wille zum Erhabenen, der sich auch im charakteristisch lyrischen Voice-over (Stimme: Cate Blanchett) ausdrückt, ist vor allem auf die Natur und eine Tierwelt gerichtet, aus der Menschen durch ihr Bewusstsein ausgeschlossen sind. Dazwischen sind geringer auflösende Aufnahmen von Demonstrationen, einem Hindu-Fest, einer jüdischen Hochzeit u. a. zu sehen, Bilder, die den Kontrast im Profanen suchen.

Schock und Trauer

Man wird sehen, ob sich die Jury für solche Sensationen begeistern kann. Mit Jackie gibt es einen weniger umstrittenen Preisanwärter. Der Chilene Larraín konzentriert sich in seinem Porträt der First Lady auf die Krisensituation nach Kennedys Ermordung in Dallas. Das Trauma gibt dem Film die Form vor, entrückt, verstellt, taub wirkt seine Perspektive. Mica Levis schriller Score reizt die Bilder. In fast jeder Einstellung ist Natalie Portman in einer beeindruckenden Darstellung zu sehen.

"First Lady" Natalie Portman in Pablo Larraíns Film "Jackie".
Foto: Venedig Filmfestival

Die Form des Films ist ungewöhnlich, sie riskiert Ellipsen und Sprünge und findet so einen umso zwingenderen Modus, Jackies Schock und Trauer zu vermitteln. Mit blutbesudeltem Kostüm torkelt sie durch das Weiße Haus, wird beim Abstreifen der Strümpfe von Tränen überwältigt. Anderntags nimmt sie am Begräbnis Abraham Lincolns Maß, um JFKs Mythos in die Nachwelt zu verlängern. Jackie ist ein Film, der von einer Frau erzählt, die ihre Rolle als First Lady bis zur letzten Vorstellung gewissenhaft spielt – und dem Chaos dahinter. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 7.9.2016)