In Barcelonas Viertel Eixample herrscht eine klare Teilung: Links des Einkaufsboulevards Passeig de Gracia locken Bars, Clubs und Hostels ein junges Feierpublikum an, rechtsseitig dominiert der diskrete Charme der Bourgeoisie: großzügige Mehrfamilienhäuser, alteingesessene Geschäfte, höhere Preise. Diesen Teil des Bezirks nutzen Touristen normalerweise nur als Durchgangsweg vom mittelalterlichen Born hinauf zum Ausgehviertel Gracia. Er wird beherrscht von 100 Meter mal 100 Meter großen Straßenkarrees mit oktagonal angelegten Kreuzungen. Wenig zu sehen im Viertel? Gar nicht, man muss nur genau hinschauen, um zu entdecken, wie Dreta de l'Eixample – so der katalanische Name – gerade erblüht.

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Die Dachterrasse der Casa Mila von Architekt Antoni Gaudí. Im Viertel Dreta de l'Eixample entsteht gerade viel Neues, das viele Touristen gar nicht kennen.
Foto: Picturedesk/Gunnar Knechtel

Die Geschichte

"Weg mit der Mauer!" Das skandierten schon die Einwohner Barcelonas 1843, als die boomende Textilindustrie der Stadt ein exorbitantes Wachstum bescherte. Mehr als 185.000 Menschen lebten auf wenigen Quadratkilometern innerhalb der dicken Stadtmauern – eine der damals am dichtesten besiedelten (doppelt so dicht wie das enge Paris) und von Krankheiten besonders heimgesuchten Städte Europas. Die Lebenserwartung fiel auf 36 Jahre bei vermögenden Bürgern und 23 Jahre bei Arbeitern.

Deshalb wurde 1854 damit begonnen, die Wälle niederzureißen und ein zwei Quadratkilometer großes Planviertel an das historische Zentrum anzuschließen. Man nannte es schlicht "die Erweiterung" – Eixample. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts tobten sich besonders modernistische Architekten mit ihren schrulligen Entwürfen (die berühmte Casa Milà ohne Ecken und Kanten liegt auch in der Dreta) in dem neuen Gebiet aus.

Größtes Wahrzeichen

Die verrückteste Gestaltungsidee ist jedoch noch im Bau befindlich – und wird spätestens nächstes Jahr noch mehr Touristen anlocken. Ganz im Norden der Dreta liegt die unvollendete Kathedrale Sagrada Família, an ihr wird seit 1882 gebaut, im kommenden Jahr sollen endlich die spindelartigen und gezackten Türme mit den bunten Mosaiken fertig werden. Weitere neun Jahre später soll der ganze Bau abgeschlossen sein, pünktlich zum 100. Todestag jenes Mannes, dem dieser Einfall zu verdanken ist – dem katalanischen Architekten Antoni Gaudí. Der Anblick seiner Kirche erinnert schon halbfertig eher an ein Märchenschloss, erdacht von einem durchgeknallten Genie, das Weihnachtsbäume und Heiligenszenen gleichwertig auf der Fassade anbringen ließ, als an eine geweihte Stätte. Reisende können einige der Türme bereits besteigen, spätestens seit dem Barcelona-Werbefilm Vicky Cristina Barcelona von Woody Allen empfiehlt sich eine vorherige Online-Anmeldung.

Die Sagrada Familia, an ihr wird seit 1882 gebaut.
Foto: apa/afp/lago

Kuriose Sehenswürdigkeit

Geheimnisumwoben ist der verwunschene Bau in der Carrer Bailèn 70 – oder "der mysteriöse Tempel", wie ihn die Einheimischen nennen. Freimauerloge? Soho House Barcelona? Hinter Oleanderbüschen und Palmen versteckt sich eine Art römischer Tempel mit dicken Säulen und mächtigen Türen: das Parthenon Masriera. Es wurde 1882 von zwei Brüdern in Auftrag gegeben, die gern eine Kopie des Augustustempels von Pula in Eixample erschaffen wollten.

Ein Theatersaal soll sich unter anderem im Inneren befinden, das leider nicht öffentlich zugänglich ist. Auf 1000 Quadratmeter Fläche residiert nämlich heute in dem neoklassizistischen Bau ein sehr verschwiegener Nonnenorden. Aber durch das schmiedeeiserne Gitter dürfen Besucher natürlich schauen und sich vorstellen, dass einige Figuren aus den geheimnisvollen Barcelona-Romanen von Carlos Ruiz Zafón hier Zuflucht finden könnten.

Der Spaziergang

Um einen guten Überblick über La Dreta zu erhalten, sollte man vom Passeig de Gracia in die Carrer d'Arago einbiegen, bis hin zur Höhe der alten Markthalle, in der zeitgemäß Bioprodukte aus der Umgebung angeboten werden. Es riecht wie früher nach Käse, Fisch und Fleisch, die Preise sind aber dem Mietniveau angemessen gesalzen. Vom Markt weiterspazieren zum Passeig de San Joan.

Ein Oktopusverkäufer vor de Markthalle in der Carrer d'Arago.
Foto: istock/Tempura

Der wenig bekannte Boulevard erlebte in den vergangenen Jahren eine Aufwertung, wurde begrünt, mit gemütlichen Holzbänken bestückt und diversen Cafés veredelt. Einmal hinauf zum Verdaguer-Platz gehen, vom Denkmal des gleichnamigen Schriftstellers hinunterschauen auf den Tetuan-Park mitsamt modernistischem Monument über den Triumphbogen bis hinunter zum glitzernden Mittelmeer. Auf der Promenade schwatzen am Wochenende alte Herren miteinander, die ihre Hunde Gassi führen, und spielen junge Familien, die eine der beliebten Wohnungen ergattert haben. Einfach eine Mandelmilch bestellen und beobachten, wie Barcelonas Straßen ohne Touristen aussehen.

Einen Drink, bitte!

Neu eröffnet hat im Innenhof der Casa Bonyo die Bar Libertine. Drehende Deckenventilatoren, gemütliche Ledersofas in Überlänge, meterhohe Decken: Hier kommt ein wenig New-York-Feeling auf. Noch ein letzter Beweis gefällig, dass das rechtsseitige Eixample in Mode ist? Der Fotograf und Mitgründer der Designzeitschrift Apartamento, Natcho Allegre, hat kürzlich eine Bar an der Avenida Diagonal eröffnet, die einmal durch das Viertel schneidet. Petrolfarbene Wände, matt schimmernde Spiegel und klassische Cocktails sollen in der Bar Servicio Continuo wohl an die 1950er-Jahre erinnern. Der Service ist momentan noch ganz dem Fashionzirkus verhaftet und ein wenig snobistisch.

Adressen: Libertine: Gran Via de les Corts Catalanes 700, Servicio Continuo: Avenida Diogonal 353

Und jetzt etwas essen

Die Bar Mut gehört zu den besten Tapas-Bars der Stadt, und seit Robert De Niro sich als Fan outete, vermutlich auch zu den teuersten. Es gibt unter anderem pochierte Eier in Chorizosauce zu selbstgemachten Kartoffelchips.

Weniger gediegen, aber ebenso experimentell ist das "Ferrum" an der Grenze zu Gracia. Hier gilt die alte Regel: mehrere Tapas bestellen und teilen. Danach geht immer noch ein Teller frisch zubereiteter Kabeljau.

Zum Frühstücken lohnt sich ein Besuch bei den Hipstern von "Granja Petibo". In einem weiß getünchten Ecklokal speist die junge Boheme Eggs Benedict oder Huevos Rancheros – unter zarten Vogelillustrationen und auf grünen Sitzpolstern. Am Wochenende längere Wartezeiten einplanen.

Adressen: Bar Mut, Carrer Pau Claris 192, Ferrum: Carrer de Corsega 400, Granja Petibo: Passeig de San Joan 82

Ekosistema Creative

Ins Bett

Eine der spannendsten Hoteleröffnungen des Jahres ist das Cotton House im südlichen Teil des Viertels. Es wurde ursprünglich im 19. Jahrhundert als Sitz einer großbürgerlichen Familie errichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Verband der Baumwollindustrie das Gebäude, stockte es um einige Etagen auf, und vergangenes Jahr eröffnete nach einem gründlichen Umbau ein Boutiquehotel darin.

Die Geschichte lebt im eindrucksvollen Eingangsbereich mit der Marmortreppe fort, an die frühere Textilhochburg Barcelona erinnern die Stoffe in den Zimmern, aus denen sich Gäste einen Maßanzug der Marke Santa Eulalia schneidern lassen können.

Der Clou ist jedoch die turnhallengroße und üppig bepflanzte Terrasse. Ein Glas knackig kal- ten Weißwein Verdejo für fünf Euro in dschungelartiger Kulisse, das ist im Gegensatz zu den Übernachtungspreisen (ab 200 Euro aufwärts) geradezu nachgeschmissen. Genießen, zurücklehnen und sinnieren, wie Gaudí zu seinen verspielten Ideen kam. (Ulf Lippitz, 11.9.2016)