Würde Ungarn heute die EU-Mitgliedschaft anstreben, hätte das Land keine Chance, sagt Luxemburgs Chefdiplomat Jean Asselborn.


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Der Konflikt um die Verletzung von EU-Recht und der Europäischen Charta der Grundrechte zieht sich seit 2010 wie ein roter Faden durch die Beziehung zwischen der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orbán und der EU. Seit Orbán in Ungarn die Macht übernommen hat, nutzte er die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament in Budapest immer wieder, um die Verfassung auszuhöhlen oder EU-Regeln zu unterlaufen.

Einmal versuchte Orbán, die Medien gefügig zu machen, dann stellte er die Unabhängigkeit der Höchstrichter infrage. Mehrfach hat die EU-Kommission mit Klagen gedroht, das Europäische Parlament verurteilte den Premier. Er revanchierte sich mit wilden Attacken, lenkte aber immer wieder ein und änderte inkriminierte Gesetze unter EU-Druck ab.

Mit der Eskalation der Migrationskrise erreicht der Streit eine neue Qualität – im Negativen. Orbán produziert sich als Retter des christlichen Abendlandes gegen den Islam, riegelte mit hohen Zäunen die EU-Außengrenze zu Serbien ab, ließ schärfste Asylgesetze beschließen. In der Union kommt ihm heute die Rolle des Rechtsaußen zu – nicht zuletzt, seit er für 2. Oktober ein Referendum zur Migration angekündigt hat: Die Ungarn werden befragt, ob sie sich von den EU-Institutionen per Quote zugeteilte Migranten "aufzwingen lassen" wollen.

Das alles dürfte nur drei Tage vor dem EU-Gipfel in Bratislava der Auslöser für die bisher schärfste Attacke gewesen sein, die ein europäischer Politiker, Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, gegen Ungarn vom Stapel ließ. In Bratislava wollen sich die 27 EU-Regierungschefs erstmals informell ohne Großbritannien beraten, wie es nach dem Brexit, dem EU-Austritt der Briten, in der Union weitergehen soll.

Würde heute nicht Mitglied

Asselborn warf Orbán in der Welt massive Verstöße gegen EU-Grundrecht vor. "Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden", sagte er.

Würde Ungarn heute EU-Mitglied werden wollen, hätte es "keine Chance". So wie das Land mit Flüchtlingen umgehe, sei es "nicht mehr weit zum Schießbefehl", wie bis 1989 unter kommunistischer Diktatur. Asselborn regte an, den EU-Vertrag zu ändern, um den Ausschluss eines Landes zu ermöglichen. Derzeit kann ein Land nur freiwillig austreten.

Die jüngste Eskalation trifft die Union an einem heiklen Punkt. Kommissionschef Jean-Claude Juncker hält heute, Mittwoch, im EU-Parlament seine "Rede zur Lage der Union", die als positiver Auftakt für den Gipfel in Bratislava dienen soll. Durch die Bank reagierten EU-Spitzen mit Unverständnis auf Asselborn, in Ungarn zeigte man sich empört (siehe Bericht unten).

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier etwa sagte bei einem Besuch in Lettland, es sei "nicht meine persönliche Haltung, einem Mitgliedsstaat die Tür zu weisen", man müsse sich "komplizierten Debatten stellen". Ähnlich äußerte sich Sebastian Kurz aus Österreich. Der Lette Edgars Rinkevics sagte, "Megafon-Diplomatie", bringe nichts.

Im Plenum des EU-Parlaments wurde am Dienstag unterdessen ein Zwischenbericht zu Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit durch die Regierung in Polen debattiert, insbesondere ging es um die Debatten rund um die Besetzung des Höchstgerichts. Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans sagte, man versuche weiter, im Dialog EU-konforme Lösungen zu finden. (13.9.2016)