Das Erstellen von Größentabellen ist eine Wissenschaft für sich.

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Shoppen kann ganz schön frustrierend sein, vor allem bei Marken, die man nicht kennt. Meist nimmt man ohnehin vorsorglich auch eine Nummer größer, als man eigentlich bräuchte, in die Umkleidekabine mit. Trotzdem ist die Chance groß, dass es eine böse Überraschung gibt: Eine 40 ist nicht gleich eine 40. Nicht nur jedes Label, auch jedes Land interpretiert die Größen unterschiedlich: Die Briten etwa schneidern legerer als die Italiener und Franzosen. Die großgewachsenen Schweden haben andere Körperbilder als der südeuropäische Markt. Das internationale Chaos bei den Kleidergrößen führt zu Absurditäten wie diesen: Die durchschnittliche Konfektionsgröße bei Frauen liegt im deutschsprachigen Raum bei 42 – bei der spanischen Modekette Mango beginnen die Übergrößen bei 40. Da wird der Durchschnitt plötzlich zur Ausnahme.

Und das italienische Teenie-Label Brandy Melville, auch mit einem Store auf der Mariahilfer Straße vertreten, kennt ohnehin nur eine Unterscheidung zwischen dick und dünn. Ihre Einheitsgröße Small setzt auf ein Body-Elitedenken, für das die Marke von vielen Seiten heftig kritisiert wird, sind doch gerade Jugendliche extrem anfällig für Essstörungen. Keine Frage, über die Kleidergröße schaffen die Labels ein Idealbild ihrer Kundinnen: Die Frauen müssen sich den Kleidern anpassen, nicht die Kleider den Frauen.

Schmeichelgrößen

Andere Anbieter wiederum setzen auf sogenannte "Schmeichelgrößen", schneidern also größer, als es der angegebenen Size entsprechen würde, um ihre potenziellen Kundinnen mit einem guten Körpergefühl zu hofieren. Natürlich macht diese Beliebigkeit bei den Kleidergrößen gerade im Online-Bestellbereich immense Probleme. Das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" befand kürzlich, die Deutschen seien "das Land der Zurückschicker". Pro Jahr wandern rund 250 Millionen Pakete an Händler retour, die größte Rücksendequote von 28,5 Prozent verzeichnete der Bereich "Kleidung und Schuhe". Auch in Österreich steigen die Zahlen ständig: Hierzulande wurden im Jahr 2013 rund 156 Millionen Pakete zugestellt, um rund 21 Millionen mehr als noch im Jahr 2009. Bei Modeversandunternehmen gehen bis zu 50 Prozent der Pakete zurück. Kein Wunder, jede Bestellung ist ein Lotteriespiel. Man fragt sich: Woher bezieht die Fashion-Industrie eigentlich ihr Wissen über die Körper ihrer Kundschaft?

Das Erstellen von Größentabellen ist eine Wissenschaft für sich, möchte man nicht gänzlich an den realen Körpern vorbeiproduzieren, benötigt man empirische Daten. Erste Zahlen sind seit dem Jahr 1875 dokumentiert, damals wurden Wehrpflichtige vermessen, um Durchschnittskörpermaße zu erforschen. Seit 1957 werden sogenannte "Reihenmessungen" regelmäßig vom Hohenstein Institute im schwäbischen Bönningheim durchgeführt, das Material wird dann an interessierte Modefirmen weiterverkauft. Die letzte dieser Erhebungen fand im Jahr 2009 statt, unter dem Titel "SizeGERMANY" wurden die Körpermaße von 13.362 Männern, Frauen und Kindern zwischen 6 und 87 Jahren ermittelt. "Viele Unternehmen greifen noch immer auf Zahlen aus den 1960er-Jahren zurück", sagt Hohenstein-Expertin Anke Klepser. "Dabei wissen wir, dass die Leute kontinuierlich größer geworden sind – diese Entwicklung scheint allerdings gerade zu stagnieren." Als Flohmarktkäuferin kennt man dieses Problem: Bei der schicken Bluse oder dem warmen Mantel von der Oma sind meist, obwohl die Größe passt, die Ärmel zu kurz. Seit 1994 sind Frauen einen Zentimeter gewachsen (Männer sogar 3,2), haben beim Brustumfang 2,3 (Männer: 7,3) und bei der Taille 4,1 Zentimeter (4,4) zugelegt.

Problemzonen

"Sowohl Frauen als auch Männer sind heute im Durchschnitt kräftiger als unsere Eltern und Großeltern", bestätigt Klepser. Erstmals wurden aber nicht nur die Maße abgenommen, sondern alle Probanden mittels 3-D-Scannern an 31 Standorten in Deutschland erfasst – und zwar jeweils in einer sitzenden und drei stehenden Positionen. Diese 3-D-Daten sagen natürlich viel mehr darüber aus, wo Problemzonen sind, wie Stoffe fallen, wo es zwicken könnte, als abstrakte Brustumfänge. Gleichzeitig lassen sich diese Messzahlen mit zusätzlichen, anonymisierten Daten wie Alter, Geschlecht, Kinder, Ausbildung verlinken. Klingt fast ein wenig unheimlich: Man könnte theoretisch klären, wie der durchschnittliche Brustumfang eines Vaters mit drei Kindern aussieht. Ob Arbeiter andere Körper haben als Akademiker. "Letztendlich ist unsere Größentabelle aber nur eine Empfehlung", so Klepser. "Jede Marke interpretiert diese Größen auf ihre Art, passt sie an ihre Wunschkundin an."

Deshalb benötigen auch die Kunden neue Wege beim Shoppen: Der Anbieter "fits.me" ermöglicht über die Eingabe von Maßen, einen Avatar zu entwerfen, mithilfe dessen Kleider auf Webseiten anprobiert werden können. Händler können das System kaufen – im deutschsprachigen Raum hält sich die Nachfrage allerdings in Grenzen. Bislang hat kein Online-Anbieter den persönlichen Avatar im Programm. Für Klepser stellt sich ohnehin die Frage, wie realistisch diese Darstellung ist: "Jedes Material fällt anders und verändert dadurch die Silhouette". So schnell wird sich der Markt also nicht verändern, Einkaufen wird auch in Zukunft mit jeder Menge Frust, netten Überraschungen und vielen Retourpaketen verbunden bleiben. (Karin Cerny, RONDO, 8.10.2016)