"Wir haben seit dem Zweiten Weltkrieg noch nichts Besseres gefunden als dieses vereinte, soziale Europa", sagt Georges Dassis.

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STANDARD: Mit der Solidaridität der Arbeiter scheint es oft recht schnell vorbei, wenn es über die Landesgrenzen hinausgeht. Viele haben etwa für den Brexit gestimmt, damit keine ausländischen Arbeiter mehr kommen. Warum ist das so?

Dassis: Propaganda. Von den Briten wurden viele Lügen verbreitet. Ich war Ende der 1960er selbst politischer Flüchtling in Belgien und habe diese Slogans gehört. Diese Ausländer wollen den Belgiern die Arbeit klauen. Dasselbe habe ich Ende der 1980er Jahre gehört, die Albaner wollten den Griechen die Jobs wegnehmen. In beiden Fällen war es absolut falsch. Die haben Jobs bekommen, auch in Österreich, die sonst niemand machen wollte. Das ist eine goldene Regel und fast immer und überall so.

STANDARD: In Österreich ist es aber unbestritten, dass die Migration in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten das Lohnniveau der Arbeiterklasse drückte.

Dassis: Das darf nicht passieren. Ein Österreicher sollte genau wie der Slowake oder Ungar nach Tarifvertrag bezahlt werden.

STANDARD: Viele verdienten aber mehr als den Tariflohn. In Österreich sorgt auch die befristete "Entsendung" von Arbeitern für Aufregung.

Dassis: Eine Arbeitsleistung, die an einem Ort erbracht wird, muss nach den Regeln und Vorschriften dieses Ortes bezahlt werden. Es muss auch gleich viel für die Sozialversicherung bezahlt werden. Ich hoffe sehr, dass das bald umgesetzt wird. Es kann nicht sein, dass durch unlauteren Wettbewerb das Lebensniveau von österreichischen Arbeitern herabgesetzt wird. Diejenigen, denen es schon gut geht, dürfen nicht ärmer werden. Warum sollte sonst ein österreichischer Arbeiter das europäische Projekt verteidigen?

STANDARD: Einige Politiker wollen die EU-Migration einschränken. Ist das vorstellbar?

Dassis: Das wäre ein Fehler. Die Historie zeigt uns, dass wenig Menschen ihren Heimatort rein aus Lust auf ein Abenteuer verlassen. Wenn die Jobs haben, bleiben sie daheim. Irgendwann wird es ein Gleichgewicht geben. Bayern war lange unterentwickelt, trotzdem sind die Leute nicht in Scharen nach Hamburg oder Köln. Die EU muss mehr investieren, Industrie aufbauen. Dafür braucht es einen gemeinsamen Haushalt so ähnlich wie in den USA. Derzeit macht das EU-Budget nur ein Prozent der Wirtschaftsleistung aus.

STANDARD: Die Lust auf mehr Integration ist derzeit sehr beschränkt.

Dassis: Die EU war lange sehr attraktiv, die Erweiterung ging voran. Zuerst sechs, dann neun, zehn, zwölf, 15. Dann gleich 25. Das ging vielleicht zu schnell, es war ein sehr brutaler Anstieg. Das ist aber kein Grund, sich nicht weiter für die europäische Integration einzusetzen. Deutschland gibt es als föderales Modell erst seit 100 Jahren, Italien ein bisschen länger. Unsere Kinder müssen das Bewusstsein bekommen, Europäer zu sein. Wer heute behauptet, ein Nationalstaat können gegen China, Indien, die USA etwas erreichen, der irrt sich gewaltig.

STANDARD: Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für Arbeitnehmer. In vielen Ländern sorgen Gewerkschaften dafür, dass Jüngere gegenüber Älteren massiv benachteiligt werden. Auch in EU-Südländern.

Dassis: Diese Geisteshaltung gibt es. Aber nicht nur im Süden, das finden Sie auch im Norden Europas. Ich versuche das zu bekämpfen. Wie oft habe ich festgestellt, dass sehr gut organisierte Gewerkschaften sich immer nur um ihre eigenen Interessen kümmern, um ihren Sektor, ihr Land. So macht man keine Fortschritte. Man muss sich auch für die anderen einsetzen. Junge, Pensionisten, Arbeitslose. Denn denjenigen, denen es heute gut geht, kann es morgen schon schlecht gehen.

STANDARD: Lange wurde in Europa alles besser, es gab mehr Lohn, Urlaub, mehr Rechte. Jetzt finden viele, es wird schlechter. Zu Recht?

Dassis: Es ist nicht wahr, dass es Rückschritte gibt. Zumindest nicht für die, die Arbeit haben. Es stimmt aber, dass wir keine Fortschritte mehr machen, weil zu wenig investiert wird, es braucht eine Reindustrialisierung. Und das ist dringend notwendig. Denn wenn die Populisten an die Macht kommen, dann ist der Frieden in Gefahr. In Nazi-Deutschland und im faschistischen Italien ist alles Mögliche versprochen worden, stattdessen sind Millionen Menschen getötet worden. Das war eine Kultur des Hasses und gegen die muss man vorgehen. Wenn die Populisten an die Macht kommen und dann kommen Probleme ... Dann sagt der Front National, die Deutschen sind schuld. Deshalb fordere ich alle jungen Leute auf, sich für ein integriertes, soziales Europa einzusetzen. Wir haben seit den Weltkriegen nichts Besseres gefunden als dieses Europa. (Andreas Sator, 14.9.2016)