Jean-Claude Juncker hielt seine Rede zur Lage der Union.

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Straßburg/Brüssel – EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union kritisiert, dass die EU "derzeit nicht in Topform" sei. Die Solidarität sei "zu klein" und die EU "nicht sozial genug", sagte Juncker am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. Allerdings sei die EU in ihrem Bestand durch den Brexit "nicht gefährdet", so Juncker.

"Existenzielle Krise"

Es gebe zwar im Vergleich zu seiner Rede vor einem Jahr Fortschritte, doch lasse die Lage der EU weiter zu wünschen übrig. "Einiges lässt vermuten, dass wir in Teilen mit einer existenziellen Krise der EU zu tun haben. Die Zahl der Bereiche, wo wir nicht spontan zusammenfinden, ist zu groß und wo wir solidarisch zusammenarbeiten, zu klein." Allzu oft werde exklusiven Nationalinteressen die Vorfahrt eingeräumt.

Die europäische Integration dürfe aber "nicht zulasten der Nationen forciert" werden. "Die Brechstange ist kein Instrument der europäischen Einigung", so Juncker. "Europa darf nicht zum Schmelztiegel, zum farblosen uniformen Integrationsmagma werden", forderte er. Europa lebe von seiner Vielfalt. "Die Kommission hat nicht vor, die Nationalstaaten plattzuwalzen".

"Wir sind keine Nihilisten"

In Anspielung auf die jüngste Kritik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán erklärte Juncker: "Wir sind keine Nihilisten, auch keine Antichristen, keine Zertrümmerer, keine Zerstörer. Wir sind Konstrukteure, die ein besseres Europa wollen." Dazu zähle auch die Jugendgarantie. Er akzeptiere die hohe Jugendarbeitslosigkeit nicht.

"Darf kein Einheitsstaat werden"

Der Kommissionspräsident beschreibt in seiner Rede ein "Europa auf dem Weg der Verstaatlichung". Aber "es darf und wird nie ein Einheitsstaat werden. Doch allzu oft entstehen Brüche, Fragmentierungen dort, wo wir eine Union bräuchten. Das eröffnet dem galoppierenden Populismus Räume, in dem es kein Miteinander geben kann. Populismus löst keine Probleme, im Gegenteil schafft er Probleme. Dagegen müssen wir uns wehren."

Juncker hat eine Erhöhung des Investitionsfonds auf 500 Milliarden Euro bis 2020 angekündigt. Dies bedeute auch, die Dauer des Fonds zu verdoppeln. Juncker sagte in seiner Rede, dass "wir sogar noch schneller vorankommen" können.

Milliarden für Afrika

Auch einen ehrgeizigen Plan mit 44 Milliarden Euro Investitionen in einen Afrikafonds habe man auf den Weg gebracht. Damit bringe man Menschen auch dazu, zu Hause zu bleiben, um nicht auf eine schwierige Reise zu gehen, um ein besseres Leben anzustreben.

Der Schuldenstand sei immer noch zu hoch, auch wenn er seit 2009 reduziert werden konnte. Der Stabilitätspakt zeige Wirkung. Das Wachstum dürfe jedoch nicht gebremst werden.

Er werde immer wieder gefragt, ob der Brexit der Beginn eines Auflösungsprozesses sei, sagte Juncker. Die EU sei im Bestand jedoch nicht gefährdet. Er wünsche sich jedoch, dass das britische Austrittsgesuch möglichst bald einlange, um das Verhältnis zu Großbritannien neu ordnen zu können. Einen Binnenmarkt à la carte werde es für London nicht geben.

Zum Handelsabkommen Ceta meinte Juncker, das Abkommen sei das "beste, das wir je abgeschlossen haben". Nachverhandlungen mit Kanada könne es nicht geben.

"Absolute Priorität"

Juncker apellierte auch neuerlich an die Staaten, ihren "fairen Anteil" bei der Neuansiedlung und Umsiedlung von Flüchtlingen zu leisten.

"Absolute Priorität" habe für Juncker die Verteidigung der EU, vor allem gegen den Terrorismus. Seit 2004 gab es in Europa mehr als 30 Terroranschläge, 14 davon im Vorjahr. "Wir waren in der Trauer solidarisch, wir müssen auch in unserer gemeinsamen Reaktion geeint bleiben", erklärte er. Den Terroristen müsse gezeigt werden, "dass sie keinerlei Chance haben, wenn sie versuchen, unsere Werte anzutasten", so Juncker, der forderte: "Diese Toleranz muss unsere Toleranz sein", aber "diese Toleranz kann nicht zulasten unserer Sicherheit erfolgen".

Grenzschützer für Bulgarien

Deshalb verteidige die EU ihre Grenzen mithilfe des Grenzschutzes und der Küstenwache. Er wolle, dass "ab Oktober mindestens 200 Grenzschützer auch an den Außengrenzen Bulgariens aufgestellt werden". Es müsse eine genaue Registrierung der in die EU einreisenden Personen erfolgen. Mit dem Austausch der Nachrichtendienste könne Europa ebenfalls gestärkt werden.

Die EU müsse sich auch über ihre Grenzen hinaus verteidigen können. "Die Welt wird größer, jeden Tag. Europa wird kleiner, demografisch und wirtschaftlich. Wenn wir unseren Einfluss weltweit wahren wollen, kann das nur gemeinsam Bestand haben."

Juncker forderte eine "echte europäische Außenministerin", diese Rolle solle die Hohe Vertreterin Federica Mogherini wahrnehmen. "Sie wird diejenige sein, die unsere nationalen Diplomatien bündeln kann, um bei internationalen Verhandlungen am Tisch zu sitzen. Heute habe ich aufgerufen, eine europäische Strategie für Syrien ins Leben zu rufen. Mogherini müsste über einen Sitz am Verhandlungstisch für die Zukunft Syriens sitzen."

Ressourcenbündelung

Juncker betonte, dass sich "Europa stärker beweisen muss. Das gilt vor allem für die Verteidigungspolitik." Dabei "müssen wir gemeinsam den Schutz unserer Interessen in die Hand nehmen". Notwendig dafür sei eine "beständige Struktur" in voller Komplementarität zur Nato. "Mehr europäische Verteidigung bedeutet nicht weniger Verteidigung und Solidarität auf transatlantischer Ebene". Es gehe um die "Bündelung der militärischen Ressourcen".

Die Verteidigung werde "20 bis 100 Milliarden pro Jahr kosten". Er schlage deshalb vor, bis Jahresende einen europäischen Fonds für Verteidigung einzurichten, um aktiv Forschung und Innovation anzuregen. "Der Vertrag von Lissabon gibt den Staaten die Möglichkeit, die Verteidigungskapazitäten zu bündeln – in Form einer strukturierten ständigen Zusammenarbeit. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, diese Möglichkeit zu nutzen."

Die jährliche Grundsatzrede hatten das Parlament und die EU-Kommission 2010 eingeführt. (red, APA, 14.9.2016)