Inhalte des ballesterer Nr. 115 (Oktober 2016) – Seit 15. September im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

Schwerpunkt: Johan Cruyff

JOHAN TOTAL
Cruyffs Leben und Karriere

DER SPIESSER
Cruyff privat

DER REVOLUTIONÄR
Rinus Michels und der Totaalvoetbal

DER RIVALE
Die Konflikte mit Louis van Gaal

"ZUFALL IST LOGISCH"
Cruyffs schönste Sprüche

Außerdem im neuen ballesterer

"EINE MANNSCHAFT IST EIN PROZESS"
Rapid-Trainer Mike Büskens im Interview

GEGEN DAS GESETZ DER SERIE
Sturm-Sportdirektor Günter Kreissl im Interview

"WICHTIG IST NUR DER VEREIN"
Der GAK spielt in einer neuen Liga

BULLEN VOR GERICHT
Red Bull regt auch im Frauenfußball auf

HELD VON NEBENAN
Bernd Hollerbach und die Würzburger Kickers

A WIE ATLAS
Das Wappen-ABC

20 MAGERE JAHRE
Polens Champions-League-Bilanz

KATZENGOLD
Brasiliens Fußball nach den Olympischen Spielen

WIEDERAUFERSTEHUNG
Heart of Midlothian soll in Fanbesitz übergehen

KOMMERZIALISIERUNG UND KORRUPTION
Die FIFA-Präsidentschaft von Joao Havelange

GROUNDHOPPING
Matchberichte aus Deutschland, Island und Slowenien

Cover: Ballesterer

Muller: Einer meiner Trainer, Karl Humenberger, ein Österreicher, hat irgendwann gesagt: "Du schaffst es nicht, Junge, körperlich reicht es bei dir nicht. Und schon gar nicht im Mittelfeld, du bist zu klein." Ich habe mir nur gedacht: "Lass ihn mal reden." Und ich habe es doch geschafft, von der fünften bis in die erste Mannschaft, innerhalb einer Saison.

Foto: Tobias Müller

Bennie Muller kommt mit dem Boot. Nur so ist sein Sommerhaus in einem Seengebiet südlich von Amsterdam zu erreichen. Ringsherum ist Wasser, im Garten stehen zwei Tore, auf die er mit den Enkeln kickt. Zum Lunch auf der Terrasse gibt es Heringsbrötchen, Erdbeeren, Mozzarella, Tomaten und Avocado. "Verwöhn ihn nicht zu sehr", sagt er zu seiner Frau Nel, auf den ballesterer-Reporter weisend. "Sonst kommt er noch zurück."

ballesterer: Als Johan Cruyff 1964 in der Kampfmannschaft von Ajax debütierte, waren Sie schon einige Zeit dabei. Wie haben Sie ihn damals erlebt?

Bennie Muller: Er war 17 und ein sehr freches Kerlchen. Aber nicht auf eine schlechte Art. Er hat sich so verhalten wie der Anführer des Teams. Im Trainingsspiel haben wir gleich ein paar Tritte von ihm bekommen. Stürmer Co Prins und ich waren auch keine Lämmer. Irgendwann haben wir uns angeschaut und gesagt: "Das müssen wir ihm noch abgewöhnen." Dann haben wir es Johan zurückgegeben, bis er es nicht mehr getan hat.

Ist das etwas Besonderes gewesen, dass ein junger Spieler so auftritt?

Muller: Ja, neue Spieler waren sonst eher schüchtern. Aber wie gesagt, er war nicht unangenehm. Er war sehr lustig und gesellig. Dass er nicht zu uns aufgeblickt hat, lag auch an seiner Klasse. Im Training ist er an zwei, drei Mann einfach vorbeigelaufen. Er konnte an dir vorbeilaufen wie er wollte. Er hat gleich mitgespielt, als sei er schon fünf oder zehn Jahre dabei. Er war auch sofort in der Startelf, und in seinem ersten Spiel hat er gegen Groningen gleich ein Tor gemacht.

Man hört oft, dass er nicht der einfachste Charakter war.

Muller: Ach, das war schon okay. Vielleicht hatten die Jungs, die von außerhalb kamen, mehr Probleme mit ihm. Man kann schon sagen, dass er ein typischer Jordaaner war. Er ist zwar im Bezirk Betondorp aufgewachsen, aber seine ganze Familie kam aus dem Viertel Jordaan, die sind alle nicht auf den Mund gefallen. Sein Onkel hat einen Schrotthandel betrieben, mit dem habe ich fast jeden Tag gesprochen. Wenn wir vor dem Match im Bus oder im Zug Karten gespielt haben, hatte Johan mit seinen 17 Jahren die größte Klappe. Aber er ist gleich aufgenommen worden, von ihm haben wir das einfach akzeptiert.

Wie würden Sie Cruyffs Rolle beschreiben?

Muller: Er war der Boss in der Mannschaft. Obwohl er so jung war. Innerhalb von einem halben Jahr sagte er, was zu tun war. Dafür hat er auf dem Platz alles getan. Und wir, wir mussten eben gehorchen.

Zu dieser Zeit haben viele Ajax-Spieler nebenbei noch gearbeitet.

Muller: Ja, ich habe damals schon ein Zigarrengeschäft gehabt, Johan ein Schuhgeschäft. Heute ist es kein Schuhgeschäft mehr, aber ich fahre noch oft dort vorbei, dann schaue ich immer schnell mal hin. "Johans Geschäft", denke ich dann. Verrückt. Und jetzt erst recht, wo er gestorben ist. Er hatte es nur kurz, das Geschäft. Seine Marke "Cruyff Sports" ist auch daraus entstanden.

Wie war Ihre persönliche Beziehung zur Familie Cruyff?

Muller: Johans Vater war Obst-und Gemüsehändler in Betondorp. Mein Vater war auch ein Obstkaufmann, der seine Ware auf der Straße und an der Haustür verkauft hat. Die beiden kannten sich, morgens um fünf Uhr sind sie gemeinsam zum Großmarkt gegangen. Sie waren auch zusammen in der Schule. Als ich noch nicht bei Ajax gespielt habe, bin ich auf dem Weg zu meinem alten Klub oft am Geschäft seines Vaters vorbeigegangen.

Wie sind Sie dann bei Ajax gelandet?

Muller: Irgendwann wurde ich, na ja, gescoutet, würde man heute sagen: In den Schulpausen haben wir immer Fußball gespielt. Eines Tages ist ein Mann vorbeigekommen und hat mich gefragt, ob ich bei Ajax spielen will. Das wollte ich aber gar nicht, denn dann hätte ich ja meine Freunde im Stich lassen müssen. Aber all mein Mitspieler haben gesagt: "Hast du sie noch alle, du bist wohl verrückt, dass du Nein sagst!" Ich war nicht gegen Ajax, aber für mich war das schon ein hochnäsiger Verein. Mein Vater und mein Bruder haben dann gesagt, ich müsse das Eintrittsformular unterschreiben, obwohl ich das gar nicht wollte. Ich habe es weinend unterschrieben. So bin ich zu Ajax gekommen.

Und dann haben Sie sich nach oben gekämpft.

Muller: Ich war sehr klein und habe bei den Senioren erstmal in der fünften Mannschaft begonnen. Einer meiner Trainer, Karl Humenberger, ein Österreicher, hat irgendwann gesagt: "Du schaffst es nicht, Junge, körperlich reicht es bei dir nicht. Und schon gar nicht im Mittelfeld, du bist zu klein." Ich habe mir nur gedacht: "Lass ihn mal reden." Und ich habe es doch geschafft, von der fünften bis in die erste Mannschaft, innerhalb einer Saison.

Heute würden Sie wohl kaum mehr 13 Jahre lang bei Ajax spielen.

Muller: Es hat damals schon auch Interesse von Inter gegeben. Und zweimal war der Vorsitzende von Standard Lüttich bei mir, das war auch ein großer Klub. Er ist im Jaguar vorgefahren, hat bei mir vor dem Geschäft geparkt und gefragt, ob ich bei Standard spielen will. Der ist mich quasi abholen gekommen. Aber damals konnte ich nicht weg.

Warum nicht?

Muller: Sie haben sich nicht auf die Ablösesumme geeinigt. Bei Ajax habe ich etwa 15.000 Gulden verdient. Im Jahr! Bei Standard Lüttich hätte ich 100.000 verdienen können – das war damals sehr viel. Ich habe keinen Berater gehabt, mein Vater war Obsthändler, der hat das nicht gekonnt, mein Bruder auch nicht. Also habe ich mit dem Ajax-Vorsitzenden Jan Melchers verhandeln müssen. Er wollte mich nicht gehen lassen und hat aus mir herausbekommen, was ich bei Standard verdienen würde. Zuerst hatte er 200.000 Gulden Ablöse gefordert. Als er dann von meinem Gehalt gehört hat, waren es auf einmal 350.000. Das war Anfang der 1960er Jahre. Damals hat es noch kaum gut bezahlten Fußball gegeben.

Dass sich die finanziellen Verhältnisse bei Ajax geändert haben, hatte auch mit Cruyff zu tun.

Muller: Ja. Kurz nachdem ich weggegangen war, hat er begonnen, daran zu arbeiten. Als ich den Klub verlassen habe, habe ich um die 15.000, 20.000 Gulden verdient. Wenig später hat Heinz Stuy, der Reservekeeper, 100.000 bekommen. Das war Johans Verdienst, das hat er gemeinsam mit seinem Schwiegervater Cor Coster hinbekommen. Sie haben die Gehälter nach oben gebracht.

Haben Sie denn genug verdient, um über die Runden zu kommen?

Muller: Nun, ich hatte das Zigarrengeschäft. Das habe ich mit Geld gekauft, das ich von Ajax geliehen hatte, ich glaube, um die 35.000 Gulden. Viele Leute haben gedacht, ich hätte das Geschäft einfach so bekommen. Nein, ich habe alles abbezahlt.

Wie sind Sie in der Tabakbranche gelandet?

Muller: Das Zigarrengeschäft hatte den Ruf, ein leichter Job zu sein. Aber das war es nicht. Du musst den ganzen Tag stehen. Von wegen "Zigarrengeschäft, rumsitzen". Fast 40 Jahre habe ich das Geschäft gehabt, meine Frau hat dort gearbeitet und meine Tochter auch, als sie alt genug war. Ich wohne noch immer über dem Geschäft.

Haben Sie damals denn geraucht?

Muller: Nein, ich habe nie geraucht. Johan und Piet Keizer, das waren die Raucher. Vielleicht hat es noch ein oder zwei heimliche in der Mannschaft gegeben, die es nicht gezeigt haben. Vor dem Spiel, wenn alle auf Toilette gegangen sind, haben sie geraucht. Die Toilette war oben offen, und wenn du eine Rauchwolke gesehen hast, war Johan darin oder Pietje.

Ihr Abschied von Ajax war nicht gerade harmonisch.

Muller: Nach der Niederlage im Landesmeistercupfinale 1969 wollte mich Rinus Michels nicht mehr haben. Zuvor hat er mir noch gesagt, dass ich als defensiver Mittelfeldspieler im Team bleiben sollte. Doch dann hat er mich nur auf der Bank sitzen lassen, sicher 25, 30 Spiele. Ich bin dann zu Holland Sport in Den Haag gegangen, wo ich noch weniger verdient habe. Mit Michels bin ich sowieso nicht gut klargekommen, er war wie ein General, und solche Leute konnte ich nicht leiden. Ich habe danach sicher zehn Jahre nicht mit ihm geredet, und auch zu Ajax bin ich eine Zeitlang nicht gegangen. Ich habe mich echt verarscht gefühlt.

Trotzdem sind Sie später zurückgekommen, genau wie Cruyff, der Ajax auch im Zorn verlassen hat.

Muller: Johan ist zu Feyenoord gegangen, weil er Ajax treffen wollte. Und dann ist er doch wieder zurückgekommen. Verrückt ist das. Ajax zieht wohl an einem. Alte Liebe stinkt nicht, sagt man hier. Ich bin als Amateurtrainer zurückgekehrt. Heute sitze ich auf meinem Platz auf der Tribüne und bin Mitglied von Lucky Ajax, der Traditionself. Aber im Vorstand mitmachen oder so etwas, daran habe ich kein Interesse.

Gibt es eine Anekdote zu Johan Cruyff, an die Sie sich besonders gern erinnern?

Muller: Johan ist einmal zu spät zum Stadion gekommen, als wir zu einem Auswärtsspiel fahren wollten. Das hat man bei Michels besser nicht gemacht. Wir sind schon im Bus gesessen und gerade aus dem Stadion hinausgefahren, da ist Johan in seinem Auto angekommen. Michels hat nur gesagt: "Wei-ter-fah-ren!" Also sind wir weitergefahren, und Johan musste dem Bus den ganzen Weg folgen. Da war Michels konsequent. (Tobias Müller, 15.9.2016)