In Wien wird in 25 Sprachen kostenloser Muttersprachenunterricht angeboten.

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In einem meiner Workshops frage ich die Teilnehmer, wie sich die Sprachen, die in ihrem Leben wichtig waren, entwickelt hatten. Mitraa, deren Eltern aus dem Iran nach Österreich ausgewandert sind, erzählt, dass mit ihr zu Hause Persisch gesprochen wurde. Das Erlernen der deutschen Sprache stand aber immer im Vordergrund. So entwickelte sie sich entsprechend gut. Mitraa kam in die Schule und hatte dort keine Probleme voranzukommen. Für das Persische aber blieb immer weniger Zeit und Raum.

"Für meine Eltern war es ausreichend, dass ich mich verständigen konnte und dass ich sie verstand", sagt Mitraa. "Im Nachhinein finde ich es sehr schade, dass sie mich in unserer Familiensprache nicht mehr gefördert haben. Ich habe zum Beispiel nie ordentlich Lesen und Schreiben gelernt." Mitraa spricht hier einen wichtigen Punkt an: Die Chance auf das sprachliche Erbe geht über die Schrift.

In unserer mitteleuropäischen Gesellschaft wird eine Sprachkompetenz ohne Schreiben und Lesen nicht als vollwertig erachtet. Einen vollgültigen Nutzen aus ihrer Mehrsprachigkeitskompetenz können Kinder erst dann erzielen, wenn sie auch diese beiden Grundfertigkeiten erwerben. Dann stehen ihnen die Türen weit offen, dann lohnt es sich, in den Lebenslauf zu schreiben: "Muttersprachenniveau in ...".

Wichtiger Zugang zur Schriftkultur

Außerdem ist es um ein Vielfaches bereichernder, durch die Lese- und Schreibkompetenz Zugang zur Schriftkultur zu haben. Es bedeutet einen Zugang zum eigenen kulturellen und sprachlichen Erbe auf einer neuen Ebene. Man kann Neues über sich, die eigene Familie und Herkunftskultur entdecken, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Man kann sich ein selbstbestimmtes Bild von der kulturellen Tradition und den sozialen Normen und Gewohnheiten bilden. Und es ist letztendlich eine weitere Chance, die kulturellen Elemente, die bewusst oder unbewusst die eigene Identität ausmachen, besser zu verstehen und zu verinnerlichen.

Ein vielseitiges Angebot

Etwas später im Laufe des Workshops frage ich die Teilnehmer, was sie sich sprachlich für ihre mehrsprachig aufwachsenden Kinder wünschen. Hier überrascht Mitraa mit ihrer Aussage: "Ich will meine Tochter nicht überfordern. Es reicht, wenn sie sich mit meiner Familie auf Persisch verständigen kann." Als ich sie daran erinnere, was sie mir zuvor anvertraut hatte – also wie sehr sie sich von ihren Eltern gewünscht hätte, gefördert worden zu sein, um Persisch besser zu beherrschen –, lächelt sie. "Sehen Sie, ich tappe in die gleichen Muster. Meiner Tochter würde ich gerne mehr aus meinem sprachlichen Erbe mitgeben, aber wie?"

Viele Eltern bilingualer Kinder sind nicht gut über die wunderbaren Möglichkeiten informiert, die das österreichische Schulsystem zu bieten hat. Vor allem in den vergangenen Wochen musste dieses allerlei Kritik einstecken. Was das Angebot an Muttersprachenunterricht angeht, ist es im europäischen Vergleich jedoch fantastisch aufgestellt. In Wien wird in 25 Sprachen kostenfreier Muttersprachenunterricht angeboten. Die Kinder lernen Lesen und Schreiben und bekommen zum Teil Einblick in Kultur, Literatur und Geschichte.

Auch die unterschiedlichen kulturellen Communities haben einiges zu bieten. Vereine, Kulturinstitutionen oder Botschaften bieten außerschulisch viele Möglichkeiten, um die Kinder neben der Schulsprache Deutsch in anderen Sprachen zu unterrichten. Wer motiviert ist und ein wenig sucht, wird überrascht sein, wie vielseitig das Angebot auch hier ist: Nachmittagsschulen, Kurse für bilinguale Kinder, Sprach- und Kulturunterricht und vieles mehr.

Ein lohnenswerter Aufwand

Ich möchte Eltern dazu motivieren, ihre Kinder zweisprachig großzuziehen und ihnen in zwei oder mehr Sprachen nicht nur das Sprechen und Hörverstehen beizubringen, sondern auch sicherzustellen, dass ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen. Denn je höher die Kompetenzen, desto besser für die zukünftige Entwicklung des Kindes, und zwar auf vielen Ebenen, kognitiv, im Selbstbewusstsein, im Heranreifen der Persönlichkeit und im Eröffnen weiterer Chancen. Ja, es ist ein großer Mehraufwand, neben der Schulsprache Deutsch ein Kind in einer weiteren Sprache zu alphabetisieren, aber der Aufwand lohnt sich allemal.

Und an die Pädagogen möchte ich appellieren: Informieren Sie die Eltern über alle Angebote, die diesen offenstehen! Viel zu oft berate ich Eltern, die keine Information über die Möglichkeiten haben, die ihren mehrsprachigen Kinder im österreichischen Bildungssystem zur Verfügung stehen.

Eine ganz neue Welt

Ein positives Beispiel zum Schluss: Neulich erzählt eine Mutter, dass sie ihren Sohn in einer Schule angemeldet hatte, wo am Nachmittag auch Muttersprachenunterricht für bilinguale Kinder angeboten wird. "Ich bin erleichtert, dass mir jemand diese Aufgabe abnimmt", sagt sie, "ich freue mich auf die ersten Kinderbücher, die ich nicht mehr vorlesen muss, sondern, die wir gemeinsam lesen werden."

Mit Schrift eröffnen wir zweisprachigen Kindern eine ganz neue Welt. Nicht nur die literarische Tradition, auch der Kontakt zu Gleichaltrigen wird leichter – denken Sie nur an Whatsapp und andere soziale Medien. (Zwetelina Ortega, 16.9.2016)