Wenn Staatenlenker sich in kritischen Situationen mit einer "Rede an die Nation" direkt an ihr Volk wenden, haftet dem oft etwas Besonderes, etwas Magisches an – manchmal auch etwas zutiefst Berührendes. Der "Zauber" rührte in den Jahrzehnten vor Internet, Twitter und Youtube vor allem daher, dass solche Erklärungen oft mit kollektiven Hörerlebnissen verbunden waren.

Die halbe oder "ganze" Nation saß früher vor dem Radio- oder Fernsehgerät, um Kriegsreden, Regierungserklärungen oder wichtige Ankündigungen zu verfolgen. Danach konnte man darüber umfassend diskutieren.

Heutzutage läuft das bei der Fülle an Informationen, die täglich über uns strömen, angesichts der vielen Politikererklärungen, die weltweit jederzeit verbreitet werden und für jeden verfügbar sind, etwas anders. Man trifft immer weniger auf Menschen, die sich gleichzeitig mit komplexen Texten befasst haben. Und ausgefeilte programmatische Politikerreden sind auch selten geworden. In gewisser Weise sind sie sozusagen unzeitgemäß.

Das gilt wahrscheinlich nicht für jene Rede, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europäischen Parlament in Straßburg gehalten hat – nur zwei Tage vor einem außerordentlichen EU-Gipfel in Bratislava, der eine Zäsur in der bald 60-jährigen Geschichte der EU darstellt. Zum ersten Mal ist der Regierungschef eines Mitgliedslandes explizit nicht eingeladen. Die britische Premierministerin Theresa May wird bei den Gesprächen über die weitere Zukunft der Union nicht mehr gebraucht. Ihr Land hat sich bekanntlich für den EU-Austritt entschieden.

Dieser Schritt eines wegen seiner Größe und seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke für die Gemeinschaft enorm wichtigen Landes lässt sich europapolitisch auf eine einfache Formel bringen: Großbritannien hat sich – etwas paradox in einer globalen Welt – für den nationalen Weg entschieden, gegen den Kurs der schrittweisen Integration und Öffnung hin zu engen Partnern, den das Friedens- und Aussöhnungsprojekt EU seit 1957 verfolgt hat.

Junckers Unionsrede fällt mit diesem historischen Umbruch zusammen. Es ist keineswegs garantiert, dass die Union so einfach in Frieden und Wohlstand weitermachen kann, wie wir das im Prinzip gewöhnt sind. Und es ist eigentlich erstaunlich, wie rasch der Brexit und seine Folgen für die 27er-Gemeinschaft nach dem Referendum Ende Juni aus den öffentlichen Debatten verschwunden sind. Terror in Europa und der Putschversuch in der Türkei haben die Debatte über die politische Zukunft Europas im Sommer klar verdrängt.

Umso mächtiger kommt das jetzt im Herbst zurück, und die Rede des Chefs der EU-Zentralbehörde, die pathetisch oft "Hüterin der Verträge" genannt wird, trug dazu auf eine wohltuende Weise bei, weil sie mit feinen, sensiblen Worten – ohne die heutzutage übliche Kraftmeierei à la Viktor Orbán – auskam. Im Grunde ist es sehr einfach, worum es gerade geht.

Glaubt man, dass die Europäer auf lange Sicht besser fahren, indem sie wieder auf das einfache Konzept Nationalismus setzen? Oder ist es so, wie Juncker unsere Welt beschrieb: als eine komplexe Gemeinschaft mit vielen Problemen, auf die man mit Bedacht gemeinsam reagieren muss, solidarisch und sozial? Junckers Antwort fiel eindeutig aus. Die von Marine Le Pen, der führenden Populistin Europas, auch: Sie will die EU zerstören. (Thomas Mayer, 14.9.2016)