Ein Blick von den Hügeln auf die Altstadt von Vence, die es mit dem berühmteren Saint-Paul de Vence leicht aufnehmen kann. Die Stadt hat immer schon Künstler angezogen.

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"Ich fahre nach Vence." "Nach Saint-Paul de Vence, wie schön." "Nein, nach Vence, die Stadt nebenan." "Da gibt es eine Stadt?" Regelmäßig wiederholt sich dieser Dialog, wenn man die 20 Kilometer nordwestlich von Nizza gelegene Gemeinde als Reiseziel erwähnt. Die Welt kennt das mittelalterliche Bilderbuchdorf Saint-Paul mit seiner pittoresken Stadtmauer, das von Touristen überrannt wird. Täglich wälzen sich vor allem im Sommer Massen von Menschen durch die engen Gässchen, stauen sich in den Souvenirshops und Galerien und versuchen, einen der begehrten Tische in den meist teuren Restaurants zu ergattern. Die nur wenige Kilometer entfernte Muttergemeinde mit ihren 19.000 Einwohnern aber bleibt für die meisten Besucher der Côte d'Azur ein Geheimtipp.

Das ist unverdient und gleichzeitig ein Glück. Denn Vence hat in seiner kleinen Altstadt ebenso schöne alte Gebäude, malerische Winkel und plätschernde Brunnen, zahlreiche Boutiquen mit wunderbarem Kunsthandwerk und die besseren Galerien. Dazwischen findet man Bäckereien, Fischhändler und Buchläden, und auf den kleinen Plätzen zwischen den vollbesetzten Tischen der Bistros zahlreiche Gemüse- und Blumenstände. Das Stadtzentrum ist ebenso wie in Saint-Paul von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben; bloß erkennt man sie nicht immer, weil über die Jahrhunderte ganze Wohnhäuser aus ihr herausgeschält wurden.

Nicht nur Touristen

Auf der Straße wird vor allem Französisch gesprochen; Ausländer gehen im Meer der Einheimischen fast unter. In den Restaurants der Stadt – etwa der beliebten Pizzeria Le Clemenceau, dem entzückenden Bistro Le Michel Ange oder dem eleganten L'Ambroisie in den Räumen eines alten Klosters – sind Touristen zwar willkommen, aber nicht das Hauptgeschäft.

Wer also einen oder mehrere Tage in Vence verbringt, kann den Alltag einer südfranzösischen Kleinstadt erleben, die immer schon Künstler angezogen hat und abseits des Zentrums auch die weniger schönen Seiten der Urbanität zeigt: laute Straßen, Supermärkte und seelenlose Wohnblocks. Ein Auto zu haben ist trotz des dichten Verkehrs von Vorteil, denn viele Sehenswürdigkeiten sind weit verstreut und mit dem Bus nicht gut erreichbar. Wer keine Strandnähe benötigt, für den ist Vence ein guter Stützpunkt für Ausflüge entlang der gesamten Côte d'Azur – Grasse, Nizza und Antibes sind jeweils in rund 40 Minuten erreichbar.

Matisse, Chagall, Picasso sind nicht weit

Noch innerhalb der Stadtgrenze von Vence liegt die Chapelle du Rosaire, die von außen so unscheinbare Kapelle, die Henri Matisse als Alterswerk für das Dominikanerkloster erschaffen hat – ein lichtdurchflutetes Gesamtkunstwerk mit Glasfenstern, Wandfresken und einer bis ins Detail vom Künstler entworfenen Einrichtung, das auch Ungläubigen ein religiöses Gefühl vermittelt. Die Öffnungszeiten sind kurz, das Parken schwierig, aber der Besuch ist ein wahres Erlebnis.

Parken ist auch eine Herausforderung bei der Fondation Maeght oberhalb von Saint-Paul – jener berühmten Kunstsammlung von Werken des 20. Jahrhunderts (vor allem Braque, Giacometti, Miró, Chagall, Calder) – , wo die modernistische Architektur und der Skulpturengarten sich so harmonisch in die mediterrane Landschaft einfügen.

Idealer Ausgangspunkt

Ein kurze Fahrt Richtung Küste führt zum Renoir-Haus, wo der große Impressionist die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat und einige Werke und sein Atelier besichtigt werden können. Und auch die Museen für die anderen großen Künstler, die an der Côte d'Azur gelebt und gearbeitet haben – darunter Matisse, Chagall und Picasso -, sind nicht weit.

Für Wanderungen in den Seealpen ist Vence ebenso ein idealer Ausgangspunkt. Gleich über der Stadt thronen die Zwillingsgipfel des Baou des Blancs und des Baou des Noirs. Der Weg hinauf beginnt entlang der Passstraße in Richtung Norden zum Col de Vence und führt auf ein Hochplateau mit prachtvollen Ausblicken auf die Küste.

Wandern entlang der Bäche

Noch imposanter ist der Baou de Saint-Jeannet, der in einer mehrstündigen Wanderung vom gleichnamigen mittelalterlichen Dorf aus erst bestiegen und dann umrundet werden kann – in den Sommermonaten möglichst früh am Tag. Bei Hitze sind überhaupt eher die Wanderungen entlang der Bäche zu empfehlen, die von den Seealpen in engen Schluchten Richtung Küste fließen – in Zeiten der Schneeschmelze vielmehr stürzen. Oberhalb von Vence etwa liegen die Gorges de Riou, die selbst viele Einheimische nicht kennen. Wie in Kaskaden fließt ein Bach über kleine Wasserfälle von einem Becken ins nächste, über einen bewaldeten Pfad steigt man von einer Ebene zur nächsten hoch und sucht den idealen Badeplatz aus. Mit genügend Mut kann man dann über die Wasserfälle springend und schwimmend Richtung Tal zurückkehren.

Bekannter und frequentierter sind die Gorges du Loup (Wolfsschluchten), die im Dorf Pont du Loup westlich von Vence beginnen. Auch hier führt ein Weg bergauf entlang eines Baches, ein anderer weit oben in der Felswand, wo einst eine Eisenbahntrasse in und – mit 22 Tunnel – durch den Stein geschlagen wurde. Dieser Weg zu den Balcons du Loup gilt als einer der schönsten der Region. Oben angelangt kann man per Rufbus ins Tal zurückkehren.

Gute Strände sind rar

Auf halbem Weg zwischen Vence und den Gorges du Loup klammert sich an einen Kalkfelsen das pittoreske Bergdorf Tourrettes-sur-Loup, in dem man unbedingt stehenbleiben sollte. Vom Hauptplatz mit Kirche, Parkplatz und Bistros aus steigt man bergab in ein wahres Labyrinth aus schmalen Gässchen und niedrigen Durchgängen, hinter denen sich immer wieder Boutiquen mit Kunsthandwerk oder Geschäfte mit Veilchenprodukten, für die Tourrettes bekannt ist, verstecken. Wo der Ort am Fuße des Felsen schließlich endet, beginnen mehrere schöne Wanderwege, die hinunter zum Loup und zu einer alten Eisenbahnbrücke bis in die Küstenebene hinabführen.

Gute Strände sind in diesem Teil der Côte d'Azur eher rar. Es zahlt sich aus, weiter bis Nizza zu fahren und dort den ganzen Tag am Strand oder in den Lokalen unterhalb des Schlosses zu verbringen.

Und natürlich muss man zumindest einmal nach Saint-Paul de Vence hinein, am besten an einem Wochentag morgens, bevor die Reisebusse eintreffen. Ein Spaziergang durch die Gassen, ein Blick von der Stadtmauer und die Besichtigung der Kirchen sind tatsächlich so schön, wie es die Reiseführer versprechen – solange man dabei nicht von den Menschenmassen erdrückt wird. (Eric Frey, 18.9.2016)