Regierungsmitarbeiter schütten illegal hergestellten Alkohol in Tapua im indischen Bezirk Aliganj weg.

Foto: APA/AFP/STR

Ein nicht enden wollender Strom an mittelalten Männern drängt sich an den Eingang des Ecklokals, das durch rostige Gitterstäbe versperrt ist. Die Wartenden wedeln ungeduldig mit Rupienscheinen, um die Aufmerksamkeit des Kassierers zu erhaschen. Dieser lässt sich kaum aus der Ruhe bringen. Lakonisch sammelt er das Geld ein, stapelt die Bündel in einem Karton und verteilt anschließend bräunlich-schimmernde Flaschen an die Durstigen.

"Das ist kein Getränk, sondern pures Gift", sagt einer der Männer – offensichtlich beschwipst –, ehe er sich selbst eine Pulle in die Jeanstasche steckt. Immerhin 220 Rupien, umgerechnet knapp drei Euro, hat er für den Brandyverschnitt berappt. Rund 6.800 solcher staatlich regulierten Alkohollokale gibt es in Tamil Nadu, dem mit 78 Millionen siebentbevölkerungsreichsten Bundesstaat am südöstlichen Zipfel des Landes. Geht es nach der Oppositionspartei, soll die Quelle bald versiegen.

Todesstrafe auf Verkauf und Herstellung

Mittlerweile leben bereits mehr als 200 Millionen Inder in Gegenden, in denen ein komplettes Alkoholverbot herrscht. Das sind mehr als doppelt so viele Menschen wie zu Zeiten der Prohibition in den USA. Mit Bihar folgte zuletzt am 5. April der jüngste indische Bundesstaat, der seiner Bevölkerung den Rausch verbietet. Wer dort dennoch zum Glas greift, kann lebenslänglich hinter Gitter wandern. Auf Verkauf sowie Herstellung von Alkohol steht gar die Todesstrafe. Erst im vergangenen Monat sind 13 Dorfbewohner aus Bihar gestorben, nachdem sie selbstgebrauten Schnaps zu sich genommen haben.

Die indische Gesellschaft pflegt von jeher ein zwiespältiges Verhältnis zum Alkohol. Im Hinduismus ist das Nervengift zwar nicht explizit verboten, gilt jedoch zumindest als lasterhaft. Zudem wird das Trinken bis heute als Überbleibsel der britischen Kolonialherren betrachtet. An europäischen Maßstäben gemessen, konsumieren Inder im Schnitt wenig, rund ein Drittel der Bevölkerung greift zumindest gelegentlich zum Glas. Zwischen 1992 und 2012 ist der Alkoholkonsum jedoch um 55 Prozent gestiegen. Das Trinkverhalten vieler Inder ist zudem problematisch: Zu 93 Prozent konsumieren sie Spirituosen.

Frauen und Muslime für Verbote

Aktivistengruppen machen den Alkohol für viele der grassierenden sozialen Übel in Indien mitverantwortlich, allen voran sexuelle Übergriffe, Verkehrsunfälle, heimische Gewalt und Haushaltsschulden. Im Bundesstaat Tamil Nadu, das mit sieben Millionen täglichen Trinkern die Alkoholrangliste anführt, gibt es die meisten Witwen unter 30 Jahren.

Überhaupt leiden vor allem Frauen am stärksten unter den Folgen des Alkoholkonsums. Sie sind es auch, die die seit zwei Jahren flächendeckenden Antialkoholproteste im Land anführen – und massiven Druck auf die Lokalregierung ausüben. Mit Prohibitionsversprechungen lassen sich vor allem die Stimmen der weiblichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen gewinnen.

Einnahmen durch Alkoholsteuern

"Dass es in Tamil Nadu tatsächlich zu einem kompletten Alkoholverbot kommt, halte ich für unrealistisch. Für die Regierung ist es schließlich ein außerordentlich gutes Geschäft", sagt Anwältin Geeta Ramaseshan, die am Obersten Gerichtshof von Madras praktiziert. Im letzten Jahr hat der Bundesstaat rund vier Milliarden Euro durch Alkoholsteuern eingenommen. In diesem Sinne finanziert das Trinken der Bevölkerung nicht zuletzt auch die Sozialprogramme von Tamil Nadu.

In dessen Hauptstadt Chennai sitzt Tami (32) bei seinem Feierabendbier im Hinterraum eines staatlichen Alkoholgeschäfts. Diese sind die einzig legalen Kneipen hier. Es ist kurz vor zehn Uhr abends, und die Gäste leeren hastig ihre Becher vor der nahenden Sperrstunde. Ob er jeden Tag hierherkomme? Tamil lächelt: "Ich kann nur trinken, wenn meine Frau später nach Hause kommt." (Fabian Kretschmer aus Chennai, 19.9.2016)