STANDARD: "Erlaubt ist, was gefällt": Goethes "Torquato Tasso" hielt immer wieder als Markstein der deutschen Theaterentwicklung her, man denke an Peter Steins legendäre Bremer Inszenierung von 1969. Stellt sich die Frage nach dem Künstler-Genie heute nicht ganz anders als vor 50 Jahren? Als Genie gilt, wer in den Rankings der Kunstszene vorne aufscheint. Wert ist gleich Wertschöpfung.
Hauß: Intuitiv würde man sagen, dass heute alles viel kommerzialisierter und banaler ist. Aber ein Stück weit denkt man auch: Die schwierige Frage nach dem Wert von Kunst und Kunstschaffen wird dem Markt mit großer Bereitwilligkeit überlassen. Viele fühlen sich durch die Fiktion des "freien Marktes", der den Preis festlegt, auch befreit.
STANDARD: Der Markt nimmt der Öffentlichkeit die Arbeit ab?
Hauß: Die Arbeit des Einschätzens. Für die Frage nach Qualität haben wir auch viele Voraussetzungen verloren. Zu sagen, ein Kunstwerk XY erfülle diese oder jene sittliche Qualität: Das gilt nicht mehr. Erlaubt ist, was gefällt und was Käufer findet. Der andere Satz im Tasso lautet aber: "Erlaubt ist, was sich ziemt." Dieser Satz scheint so diffus geworden, dass man sich lieber an das Kriterium des Erfolges hält.
STANDARD: Das meint in Sachen "Tasso"?
Hauß: Tasso ist Dichter an einem Fürstenhof. Er fragt nicht danach, wie er wahrgenommen wird, sondern er entwickelt das Problem für sich. Er wird nicht etwa aufgrund äußerer Umstände dazu gezwungen, sich selbst zu befragen, sondern er kommt aus freien Stücken zu solchen Überlegungen. Darin liegt vielleicht die Aktualität. Was die Sache für das Theater noch attraktiver macht: Goethe hatte mit dem Spagat zwischen seinem Weimarer Ministeramt und seinem Dasein als Künstler den Balanceakt selbst zu bestehen. Theater ist doch der Staatsbetrieb par excellence. Man unterliegt, indem man jeden Abend spielt, den Zwängen der Reproduktion.
STANDARD: Der Schauspieler als Dienstleister?
Hauß: Gleichzeitig erwartet man von sich selber, darüber hinaus noch etwas mehr zu sein.
STANDARD: Die Kunst muss das Inkommensurable liefern?
Hauß: Ja, das Unvorhergesehene. Damit hält man sich doch schon ganz in der Nähe dieses Geniebegriffs auf. Den muss man im Theater auch unbedingt entwickeln, weil von vornherein, strukturell gedacht, erst einmal viel dagegenspricht. Einfach, weil die Arbeitsabläufe eine notwendige Routine bedingen. Das Theater besitzt Regeln und eine feste Organisationsform. Gleichzeitig will man natürlich, dass der Funke zündet. Und da, an diesem Punkt, ist ein Stück wie Tasso interessant. Nicht so sehr der Selbstbespiegelung wegen, sondern weil Goethe selbst an einen Punkt in seinem Leben gelangt, wo er sich fragt: Was soll ich mit mir anfangen? Soll ich nach Italien gehen, um mich als Maler neu zu erfinden? Oder soll ich ganz in den Staatsdienst treten?
STANDARD: "Tasso" gehört auf seinen Schöpfer zurückgespiegelt?
Hauß: Dazu kommt Tassos Gegenspieler, Antonio, seines Zeichens Staatssekretär am Hof in Ferrara. Der ist ja keine üble Figur, kein Intrigant. Für Goethe ist Staatsklugheit eine wirkliche Option. Goethe stellt sich eine solche Frage, und er beendet das Stück erratisch. Man weiß nicht: Ist es eine Vereinigung, eine Auflösung, oder resigniert Tasso? Ist er ein Märtyrer für die Kunst?
STANDARD: Goethe überrascht Sie?
Hauß: Ich dachte immer, der wäre viel mathematischer und ausgeklügelter. Doch abgesehen von seiner mehr derben Seite: Es bleibt der Versuch spürbar, sich in die Welt, die Goethe vorfand, nicht einfach einzufügen. Umgekehrt verwirft er die Welt und ihre Anforderungen nicht. Im Grunde blieb Goethe eine Art Spieler. Er suchte wohl hin und wieder den Konflikt, nicht aber die Revolution. Ein unglaublich guter Kommunikator, der trotzdem über die Engstirnigkeit vieler seiner Zeitgenossen gut Bescheid wusste.
STANDARD: Tasso nimmt eine Dame von höchstem Stande in die Arme. Das ist gewiss unstatthaft. Doch was bedeutet das heute?
Hauß: Tasso zieht ja auch einmal den Degen. Will man das verstehen, reicht es nicht aus zu sagen: Er tut da etwas sexuell Konnotiertes. Er lässt sich eine Übertretung zu Schulden kommen. Von seiner Seite ist das der Versuch, aus dem Gefängnis, in das er sich para- noid verrannt hat, auszubrechen. Es gibt ja auch folgenden Effekt: Je wütender Künstler gegen das jeweilige Gesellschaftssystem anrennen, desto höher ist die Qualität, die man ihnen zuerkennt. In Österreich kennt man das in der Literatur, mit ihrer Hochkultur der Beschimpfung. (Ronald Pohl, 23.9.2016)