Wien – Mehrmals im Jahr besuchen vor dem Nationalsozialismus geflüchtete österreichische Juden seit über 30 Jahren ihre alte Heimat. Holocaust-Überlebende gibt es mehr als 70 Jahre nach Ende des Krieges nur noch wenige, meist sind es nun Nachkommen, die sich auf Einladung des Jewish Welcome Service in Wien auf die Suche nach ihren Wurzeln machen. Wie sehen sie den zunehmenden Rechtsruck in Österreich?
Für die beiden Schwestern Heather und Ruth Kurzbauer, deren Eltern als junges Paar nach dem Anschluss 1938 aus Wien in die USA geflohen sind, ist die Entwicklung besorgniserregend. "Ich lebe in Holland, hier haben wir auch eine rechtsextreme Partei, die in erster Linie ausländerfeindlich ist, aber interessanterweise besorgt mich das weniger, als wenn ich höre, dass Österreich sich nach rechts bewegt, das ist wie eine physische Reaktion", erzählt Heather, die an der Universität Amsterdam Recht lehrt.
Sorgen über Ungarn, aber auch USA
Besorgniserregend findet die Universitätsprofessorin eigentlich die Politik in ganz Europa, insbesondere auch was in Ungarn passiere, sowie die Entwicklung in den USA. "Für uns Holocaust-Nachkommen ist eine von Angst und Hass getriebene Politik immer besonders schlimm", meint ihre Schwester Ruth, die in Washington lebt. Nun sei der Hass zwar "nicht gegen uns Juden gerichtet", aber es handle sich um dieselbe Mentalität und das könne sich leicht ändern. Sie könne aber sehr wohl verstehen, dass die Menschen sich fürchten, da die Welt angesichts der Terrorbedrohung für alle erschreckend geworden sei.
Österreich habe seine Augen für die eigene Vergangenheit aber anders als Deutschland jahrelang geschlossen, meint Heather Kurzbauer. "Österreich hat es lange Zeit so betrachtet, dass das Land beim Anschluss besetzt worden sei, aber mein Vater hat uns erzählt: Ich war dort, es war die größte Straßenparty, die du je gesehen hast."
Als Wien ein Paradies war
Ihr Vater habe seinen Töchtern sonst immer nur Gutes über Österreich erzählt: "Er sprach von Wien, als ob es das Paradies gewesen wäre", so die Rechtsprofessorin. Ihre Eltern, die im Alter von 20 bzw. 23 Jahren aus Wien geflohen sind, seien in ihrem Inneren immer Wiener geblieben, auch wenn sie den Großteil ihres Lebens in den USA verbracht hätten.
Der vor wenigen Jahren verstorbene Vater erzählte von Opernbesuchen, Konzerten und Ausflügen mit Freunden, dem gemeinsamen Skifahren und immer wieder Wiener Witze. "Er erzählte eigentlich immer nur von seinem glücklichen Leben als Teenager in Wien," über die dunklen Erinnerungen schwieg er. Der Großteil der Familie, die Großeltern und fast alle Onkel und Tanten überlebten den Holocaust nicht, sondern wurden in den Konzentrationslagern ermordet.
Zunächst habe es lange gedauert, bis die beiden in den USA Fuß gefasst hätten. "Sie kamen in Amerika an, hatten kein Geld und keine Familie, die sie unterstützen konnte", so Heather Kurzbauer. Der Vater, der in Wien ein Medizinstudium begonnen hatte, brauchte insgesamt zehn Jahre, bis er dieses in den Vereinigte Staaten fortgesetzt und abgeschlossen hatte.
Wienerin ohne die alte Heimat
Auch die Mutter, die vor der Flucht als Sängerin und Tänzerin in Varietes im 2. Bezirk aufgetreten war, blieb stets Wienerin, sang gerne Schubert-Lieder, liebte das Wandern und die Kultur. Trotzdem schaffte sie es zeitlebens nicht, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Eine geplante Reise in den 1970er-Jahren sagte sie kurz vorher ab. Der Vater nahm daher die Töchter mit. "Sie sagte, ich kann es nicht", erzählt die Tochter. Der Vater habe in Wien dann seinen alten Freund getroffen, den er fast 40 Jahre nicht gesehen hatte.
Micha Botknecht ist einer der wenigen geflüchteten Juden der ersten Generation, die diese Woche auf Wien-Besuch gekommen sind. Er ist 1935 in Wien geboren. Von seinen ersten vier Lebensjahren in Wien hat er wenige Erinnerungen. 1939 floh er mit seiner Mutter nach England. Nachdem sein Vater, der zunächst in Dachau interniert war, nachkommen konnte, gelang die Flucht in die USA. Heute lebt der 81-jährige in Israel.
Ankommen in Brooklyn
Obwohl er seine damalige Heimat bereits mit knapp vier Jahren verlassen musste, hat ihn die große Parade beim "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland tief beeindruckt. "Als wir in die USA gekommen sind, haben wir zunächst in Brooklyn gelebt, ich hatte damals künstlerische Gefühle und habe mit Kreide Hakenkreuze auf die Straße gemalt, weil es für mich schöne grafische Symbole waren", so Botknecht. Daraufhin seien große Buben gekommen und hätten ihn auf Englisch beschimpft. "Ich habe auf Deutsch geantwortet, weil ich nur das konnte, woraufhin sie mir nachgelaufen sind und mich verprügelt haben, und ich bin weinend zu meiner Mutter gelaufen", erzählt er.
Die heutige politische Situation in Österreich verfolge er nicht, so Botknecht. "Ich habe genug damit zu tun, am Laufenden zu bleiben, was die Parteien in Israel machen und was in den USA vor sich geht. Ich bin jetzt ein Israeli." (APA, Judith Egger, 23.9.2016)