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Proteste von Globalisierungskritikern gibt es fast so lange wie die zugrunde liegende Entwicklung. In diesem Fall posierten zwei Aktivisten von Occupy Frankfurt im September 2012 vor dem EZB-Gebäude.

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Hans-Peter Martin: "Die EU schafft es nicht ein Abkommen auszuhandeln, das Mindeststandards garantiert. Deshalb bin ich gegen TTIP."

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STANDARD: Fühlen Sie sich als Autor des Bestsellers "Die Globalisierungsfalle" als Profiteur der Globalisierung?

Hans-Peter Martin: Eine vernünftig regulierte Globalisierung wäre mir lieber als der finanzielle Erfolg des Buches.

STANDARD: Wie viele Exemplare haben Sie verkauft?

Martin: Es gibt nur Schätzungen, weil die arabischen und chinesischen Übersetzungen nie richtig abgerechnet wurden. In Summe dürften es eher zwei Millionen Bücher sein als eine.

STANDARD: Was hat Sie Mitte der 1990er-Jahre dazu bewogen, gemeinsam mit Harald Schumann dieses Buch zu verfassen?

Martin: Unsere gemeinsame journalistische Erfahrung, als Korrespondenten einerseits in Südamerika, andererseits in den damals dominanten Industrieländern. Wir waren beunruhigt. Das Buch war als Warnruf gedacht. Vieles hat sich leider als Prognose erwiesen.

STANDARD: Einer der wichtigsten Punkte betraf die Entwicklung zur sogenannten 20/80-Gesellschaft ...

Martin: Da warf man uns Übertreibung vor. Aus heutiger Sicht muss man leider feststellen, dass es noch untertrieben war.

STANDARD: Können Sie das Konzept kurz erläutern?

Martin: In den 1990er-Jahren entwickelten Konzernlenker im Silicon Valley die Vision, dass in Zukunft ein Fünftel der Menschheit genügen würde, um alle Waren und Dienstleistungen für die Weltgesellschaft herzustellen. Die anderen 80 Prozent müsse man mit "Tittytainment" ruhigstellen, also betäubender Unterhaltung plus ausreichend Muttermilch. Wir haben dargestellt, wie und wie schnell der damals noch breit vorhandene Mittelstand aufgerieben und zerfallen wird und auch die daraus ableitbare Erosion von Massenwohlstand und Demokratie in den Industrieländern. Neoliberalismus führt zu Neonationalismus. Das erleben wir jetzt. Marktradikalismus führt zu Autoritarismus. Darauf bewegen wir uns zu.

STANDARD: Wurde das nur von der Globalisierung angestoßen oder von der Automatisierung, die auch Arbeitsplätze vernichtet?

Martin: Durch Wirtschaftswachstum, Produktivitätszuwachs und neue Tätigkeiten wurde der Verlust von Arbeitsplätzen in vielen Bereichen kompensiert, aber oft nur durch weniger abgesicherte und vergleichsweise schlechter bezahlte Tätigkeiten. Nur in den 1970er-Jahren stieg in Österreich die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen. Seither wachsen die Vermögenseinkommen überproportional, der Mittelstand bleibt zurück. Das hat mit Automatisierung wenig zu tun, sondern mit wachsender Ungleichheit.

STANDARD: Würden wir ohne Globalisierung heute besser dastehen?

Martin: Ein Globalisierungsgegner war ich nie, aber ein Kritiker der Fehlentwicklungen. Die Globalisierung kann uns alle voranbringen, sie kann helfen, hunderte Millionen Menschen aus der Armut herauszuführen. So kann sich der Druck auszuwandern reduzieren. Dafür bedarf es stimmiger Regulierungen und einer nachvollziehbaren, individuellen Teilhabe am ökonomischen Erfolg.

STANDARD: Nur eine Frage der Verteilung?

Martin: Grundsätzlich ja. Doch das lässt sich nur global oder zumindest auf europäischer Ebene lösen. Europa ist groß genug, um einer der drei zentralen Player auf der Welt zu sein. Während der Anteil der EU am Weltbruttoinlandsprodukt 2007 noch 39 Prozent betrug, wird er 2050 unter 20 Prozent liegen. Die EU wird binnen einer Generation ökonomisch nur halb so bedeutend sein wie heute.

STANDARD: Machen unter diesem Aspekt Handelsabkommen wie TTIP Sinn?

Martin: Mit den USA könnten wir uns gegenüber anderen Interessen der asiatischen Mächte besser behaupten, deren Anteil am Weltbruttoinlandsprodukt sich verdoppeln wird. Doch die EU schafft es nicht ein Abkommen auszuhandeln, das unsere Mindeststandards garantiert. Deshalb bin ich gegen TTIP und Ceta – auch, weil es die Verunsicherung vieler Menschen befördert.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat die Verunsicherung?

Martin: Zügellose Globalisierung führt bei uns zu mehr Verlierern als Gewinnern. Hinzu kommt ein systemerschütternder Vertrauensverlust in fast alle Eliten, in Wirtschaftslenker, Banker, Politiker und Medien. Das vernünftige Argument wird von Emotion verdrängt, Fakten überzeugen nicht mehr. Angst wird zum vorherrschenden Grundgefühl. Immer mehr Menschen suchen die Antwort bei Neonationalisten, weil es nicht gelungen ist, die EU zu demokratisieren und mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik auszustatten. Inzwischen kommt es zu einer Globalisierung der Ressentiments bei den Globalisierungsgegnern von rechts.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei das Internet?

Martin: Größere Probleme können nicht mehr vernünftig diskutiert werden. Das Emotionale im politischen Diskurs nimmt zu. Das als Befreiungsinstrument im Sinne der Aufklärung gefeierte Internet erweist sich als Bumerang. Die Möglichkeiten des Informationszugangs werden überschattet von Verleumdungskampagnen und Hass. Das können die Nationalisten viel besser bedienen als jene, die auf die Vernunft setzen.

STANDARD: Welche Gefahren befürchten Sie dadurch?

Martin: Nach der Mittelschicht bricht die politische Mitte ein, was sehr gefährlich ist. Vielleicht kann ein Sieg Norbert Hofers noch einmal abgewendet werden, aber er und H.-C. Strache beherrschen schon jetzt den nationalen politischen Diskurs, und quer durch Europa formieren sich die hetzenden Neonationalisten. Die Suche nach Heil in einem neuen Protektionismus ist kaum mehr verhinderbar. Es werden noch viele Grenzzäune, auch ökonomische, hochgezogen werden, bevor wieder Vernunft einkehrt.

STANDARD: Was wäre eine sinnvolle Alternative? Die Auswirkungen der Globalisierung durch Steuern und Umverteilung abfedern?

Martin: Chancengleichheit ist herstellbar. Warum nicht hohe Steuersätze, wenn man viel Geld verdient? Und endlich ordentliche Steuern auf Vermögenszuwächse? Und selbstverständlich keine Steuertricksereien à la Apple & Co. Bei der Unternehmensbesteuerung kann es Bandbreiten geben, aber Mindeststandards wie 25 Prozent wären sinnvoll. Das geht aber nur europäisch, und dafür müssten sich die Bürger dieses Europa aneignen.

STANDARD: Wie stehen Sie zur EU-Osterweiterung?

Martin: Die Osterweiterung erfolgte zu schnell. Es gab in der Union zwei große Sündenfälle: Der erste durch den Vertrag von Nizza im Jahr 2000, als das bis dahin gültige Grundprinzip, zuerst die EU zu vertiefen und erst dann zu erweitern, aufgegeben wurde. Damit wurde die Union in eine Selbstlähmung getrieben. Sündenfall zwei war, dass man den deutschen Finanzminister Oskar Lafontaine auflaufen ließ, als er Ende der 1990er-Jahre dafür eintrat, die Weltfinanzmärkte zu regulieren. So kam es zum Crash und der Bankenkrise, und die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen zahlt der Steuerzahler. Auch das hilft jetzt den Rechten.

STANDARD: Kann der Brexit zum Umdenken in Europa führen?

Martin: In der Grundanalyse ja. Es ist eine große Angst da, noch weitere Mitglieder zu verlieren. Die zentrifugalen Kräfte haben massiv zugenommen, sodass der Austritt Großbritanniens, der vor zwanzig Jahren noch zu einer Stärkung der EU hätte führen können, jetzt schwächt. Aber ich mache mir keine Hoffnungen, dass die EU in ihrer jetzigen Größe bestehen bleibt.

STANDARD: Heißt das Austritt und eine neue EU gründen?

Martin: Neugründung oder Neuerfindung ist egal. Das wird aber erst nach der Machtausübung der Neonationalisten kommen, so pessimistisch bin ich. Erst dann wird Vernunft wieder vorherrschen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie rückblickend Ihre Zeit als Politiker?

Martin: Ich verstand mich stets als Prellbock gegen rechts, doch den Stress und die Belastung habe ich unterschätzt, vor allem die Verleumdungen. Könnte ich eine berufliche Entscheidung rückgängig machen, wäre es die, in die Politik gegangen zu sein.

STANDARD: Was beschäftigt Sie seit Ihrem Ausstieg aus der Politik?

Martin: Die Zeit nach den Neonationalen. Ich arbeite an längeren Texten, ohne Zeitdruck, reise sehr viel und begegne vielen Menschen, die ich von früher kenne. (Alexander Hahn, 24.9.2016)