Eine Wohnungsauflösung ist eine große psychische Belastung.

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"Lost in Translation" – ein Film über das Gefühl von Einsamkeit in einer fremden großen Stadt.

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"Atemlos durch die Nacht" – Helene Fischer.

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Blick auf die Burgruine Dürnstein.

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Nicht in Dürnstein, aber ein Verlies, in dem man völlig verlassen und verloren ist.

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Vor nicht allzu langer Zeit haben Menschen durch Murenabgänge in Kärnten quasi über Nacht ihr Zuhause verloren. Es gab Spendenaufrufe, der Erlös soll den Leidtragenden zugutekommen. Auch eine von langer Hand geplante Wohnungsauflösung kann starke Gefühle von Verlust hervorrufen, wenn etwa alte Menschen in ein Seniorenheim übersiedeln. Häufiger Wohnungswechsel, der ja einhergeht mit dem Verlust des Freundeskreises, ist auch für Kinder und Jugendliche eine immense Belastung und kann im Erwachsenenleben Auslöser für tiefgreifende psychische Probleme sein.

Was ist bei Ihnen los? Das fragt Sie eine Hauspartei im Lift. Die Hölle ist los, sagen Sie, weil ich umziehe. Einige Ihrer Freunde und Familienmitglieder haben ihr Versprechen eingelöst und packen widerspruchslos zu, durchstöbern Kisten und Kartons, nehmen dies oder das an sich. Nur Sie stehen gedankenverloren mitten im Chaos, heillos überfordert. Sie sammeln ein paar lose Blätter ein, die aus einem Wörterbuch gefallen sind, nehmen eine DVD in die Hand und fragen: Wer will sie haben? Sie halten "Lost in Translation" in die Höhe und erinnern sich an das Gefühl von Einsamkeit in einer fremden großen Stadt.

Den größten Teil des alten Krempels sind Sie Gott sei Dank losgeworden und einen Teil der Ablöse hat der Nachmieter bereits auf Ihr Konto eingezahlt. Aus dem alten verstaubten Kofferradio schmettert gerade Helene Fischer "Atemlos durch die Nacht". Es ist aber noch taghell draußen. Los! Nichts wie weg aus der alten Wohnung! Für morgen haben Sie den Umzugsservice bestellt. Die Aussicht auf eine neue Bleibe im Grünen fühlt sich wie eine Erlösung an. Endlich Platz für einen Löseplatz im Garten, wo Ihr Vierbeiner sein Geschäft verrichten kann.

Das mittelhochdeutsche Adjektiv lôs (Nebenform und Adverb: lôse), das im Ablaut steht zum starken Verb verliesen/vliesen – verlôs – verlurn – verlorn "verlieren" deckt einen breiten Fächer von Bedeutungen ab (siehe auch gotisch laus "lose, leer", altenglisch lēas "frei, ledig", aber auch: "treulos, eitel, wertlos"), die heute noch im standardsprachlichen los(e) zu finden sind:

Die Grundbedeutung "frei, ledig" wurde ausgedehnt zu "nicht fest verbunden und verpackt": Aller Verpflichtungen ledig und los, zog er in die Fremde. Er schenkte ihr einen letzten Blick, strich ihr einige lose Haarsträhnen aus dem Gesicht, dann riss er sich los. Da stand sie nun in ihrem weiten, losen Baumwollkleidchen und weinte.

Im übertragenen Sinne, als Charaktereigenschaft, bedeutete mittelhochdeutsch lôs auch "locker, unbefangen, übermütig, frech, leichtfertig". Zu Goethes Zeiten führte ein loses Mädchen einen moralisch fragwürdigen Lebenswandel.

Er klagte noch:

"O du loses, leidig-liebes Mädchen,
daß [sic!] du mich auf diese Folter spannest,
daß [sic!] du dein gegeben Wort gebrochen?" […]

Mädchen verlieren heutzutage in einem zarteren Alter als früher ihre Unschuld. Und die Behauptung, eine sei ein loses Mädchen, kann wohl nur mit Augenzwinkern aufgefasst werden. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Wertvorstellungen. Heute kommen gute Mädchen zwar in den Himmel, böse aber überall hin1. Es hat schon manche gereut, kein loses Mundwerk zu haben.

In der Bedeutung von "befreit von" = "ohne" wird -lôs (neuenglisch -less) zum produktiven Adjektivsuffix: grundlos, ahnungslos, bodenlos, helpless, meaningless etc. Als Verbpräfix kennzeichnet lôs- in der Bedeutung "weg von" zweierlei: einerseits das Gegenteil von an- in anbinden, anketten: losbinden, losketten, und andererseits drückt es den Beginn einer Handlung, eines Zustandes2 aus, wie etwa in loslaufen, losfahren, sich losreißen etc. Letztendlich wird lôs zum Kommandowort: Los! Achtung, fertig, los!

Um nicht ganz den roten Faden zu verlieren, machen wir kehrt und begeben uns zum Verb verlieren zurück. Dass wir heute ein –r– im Infinitiv und Präsens haben, verdanken wir dem paradigmatischen Ausgleich zugunsten des –r–. Denn in allen germanischen Dialekten (gotisch fraliusan, althochdeutsch farleosan, altenglisch forlēosan) stand ein –s– in den ersten beiden Stammformen und ein –r– in den letzten beiden, zum Beispiel altenglisch forlēosan – forlēas – forluren – forloren, mittelhochdeutsch verliesen/vliesen – verlôs – verlurn – verlorn. Es gibt jedoch heute noch Mundarten, in denen sich das ursprüngliche –s– gehalten hat3. In neuenglisch to lose (lost-lost) hat der Ausgleich zugunsten des –s– und der Endung der schwachen Verben stattgefunden. Das altenglische Partizip II lebt aber noch: A forlorn child ist ein verlassenes Kind, und forlorn hope ist vergebliche Liebesmüh‘.

Zum mittelhochdeutschen Adjektiv lôs stellen sich die Verben lôsen4 "lose Reden führen, schmeicheln, heucheln" und lœsen "befreien, erlösen; mit Geld (ein)lösen, loskaufen, bezahlen für" (gotisch lausjan und altenglisch līesan "(er)lösen, befreien").

Wir lösen eine Fahrkarte und fahren in die Wachau. König Löwenherz wurde mit einigen Scheffeln Silber als Lösegeld aus der Gefangenschaft freigekauft. Zuvor hatte er im Verlies der Burg Dürnstein geschmachtet.

Mittelhochdeutsch verlies hieß "Verlust, Schaden, Unterlassung, Sünde". In der Bedeutung "Burgverlies, unterirdischer Keller in mittelalterlichen Befestigungsanlagen" bürgerte sich das Wort, das aus dem Niederdeutschen kommt, erst im späten 18. Jahrhundert ein. Das Verlies wurde aufgefasst als ein kerkerähnlicher Ort, wo man sich verloren und verlassen vorkam, weil man so gut wie unsichtbar war für die, die sich ober Tag aufhielten.

Wir verlassen Dürnstein. Der Bus fährt gleich los und hält in Oberloiben. Wir kehren in einem Heurigen ein, und während die Gläubigen in der Stiftskirche in Dürnstein beten "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen", löst der Wein unsere Zunge. Wir verlieren ein paar Hemmungen und all unsere Ängste. Wir führen lose Reden und haben keine Verlustangst mehr. Weder Angst vor Kontrollverlust noch Gewichtsverlust5, wobei letzterer vielleicht sogar erwünscht ist.

Sollten Sie abends noch die Zeitung zur Hand nehmen, ein Kreuzworträtsel lösen und über "Kot von Wild oder Hund" stolpern, dann haben Sie mit Losung die richtige Lösung. (Sonja Winkler, 26.9.2016)