Der 29-jährige Regie-Shootingstar Ersan Mondtag setzte für seine "Iphigenie" auf ein effektvolles Bühnenbild von Stefan Britze.


Foto: Jessica Schäfer

Wenn in Fußwegentfernung zu Johann Wolfgang von Goethes Geburtshaus Iphigenie auf dem Premierenplakat des Schauspiels Frankfurt steht, kommt einem natürlich Goethes klassische Version des antiken Stoffes in den Sinn. Noch dazu, wenn es sich um den Auftakt einer Goethe-Festwoche handelt.

Allerdings steht als Autor Ersan Mondtag oben drüber. Der in Berlin-Kreuzberg Geborene ist gerade der Shootingstar der deutschen Jungregisseure. Um das zu werden, reichte die Einladung seiner heftig diskutierten Kassler Tyrannis-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen und ein Siegervotum in gleich mehreren Rubriken beim Jahresranking der Zeitschrift Theater heute.

Blutrotes Planschbecken

Doch während man beim Stichwort Iphigenie tief in den Brunnen der Vergangenheit loten könnte, warten die Kammerspiele zunächst einmal mit einem recht flachen realen Bühnen-Planschbecken der Gegenwart auf. Immerhin leuchtet es blutrot und wird reichlich genutzt. Stefan Britze fügt dem Begriff Wellnesstempel mit diesem effektvoll spartanischen Raum eine neue Bedeutungsebene hinzu. Hier und in den (zu Beginn getragenen und dann bis auf rote Badehosen abgelegten) antiken Gewändern von Raphaela Rose könnte man tatsächlich Goethes Iphigenie oder die von Euripides spielen.

Ersan Mondtag, dessen Nachname eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Türkischen ist, könnte sich unter den ästhetischen Vorfahren auf Einar Schleef oder Jan Fabre berufen, wenn das Selbstbewusstsein des noch nicht Dreißigjährigen dies brauchte.

Was er in Frankfurt heuer liefert, ist eine Choreografie der Assoziationen. Mit starken stilisierten Bildern, exzessiven Ausbrüchen des Körperlichen, von Max Andrzejwski hineinkomponierter, mal kammermusikalisch tragisch umflorter, mal souliger Musik, viel Theaterdonner, spritzendem Wasser und einem Minimum an Text.

Am Anfang und Ende in griechischem Sound, bei dem die auch ins Deutsche übergegangenen Namen und Worte wie Swarovski-Steine funkeln. Das bleibt unübersetzt und wirkt für sich. Ansonsten wird vor allem gebrüllt, geschrien, gestöhnt, gespielt oder (von Yodit Riemersma als Göttin mit dem Geweih auf dem Kopf am Beckenrand) auch einmal (aus)gelacht.

Wenn die im Chor skandierten Textschnipsel die Assoziationswellen der Bilder dann doch für Momente (unter)brechen, kommt es dicke. Unter anderem mit dem persönlichen Bekenntnis des diesjährigen Salzburger Danae-Regisseurs Alvis Hermanis: In seinem STANDARD-Interview hatte sich der Lette ausdrücklich als ein nicht linker Künstler und Gegner der deutschen Flüchtlingspolitik bezeichnet.

Oder mit antiislamischen Statements von Flaubert bis hinunter zur Sudelfeder Akif Pirincci oder hinauf zum Edellästerer Peter Sloterdijk. Diese verbalen Echos von der Nachtseite der menschlichen Natur eskalieren am Ende in einer endlos wiederholten Aufforderung zum Töten der Fremden auf Wunsch der Massen, wie sie Iphigenie als Priesterin auf Tauris in den Ohren geklungen haben dürfte.

Und so wie Jan Breustedt, Björn Meyer, Sina Martens, Sylvana Seddig und Kathrin Wehlisch danach aufschauen, ist ihnen jenes elementare Erschrecken der Iphigenie ins Gesicht geschrieben, das sie erfasst haben muss, als sie ihren Bruder unter den Todeskandidaten erkannte.

Hassaufrufe

Den Zuschauern bleibt am Ende des 70-minütigen Abends das Erschrecken über die Nähe dieser Hassaufrufe zu dem, was heute durch die (a)sozialen Netze rauscht oder der deutschen Kanzlerin entgegengeschleudert wird. So gesehen wird Mondtags Iphigenie, wenn sie am Ende allesamt auf die Knie gehen und wie unter Gewehrsalven ins Wasser platschen, noch hochpolitisch. Trotz vieler offener Fragen. Und fast ohne 21 Worte. (Joachim Lange aus Frankfurt, 27.9.2016)