Auch am letzten Verhandlungstag erschien Alen R. in seiner weißen Kleidung. Er verfolgte die Verlesung des Urteils regungslos.

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Graz – Ist Alen R. wirklich geistig so hochgradig krank, dass er für seine apokalyptische Fahrt mit seinem SUV durch die Grazer Fußgängerzone keine Verantwortung übernehmen kann? Weil er nicht wusste, was er tat, und unzurechnungsfähig war?

Nein, befanden alle acht Geschworenen am Donnerstagabend nach zweieinhalb Stunden Beratung. Sie sprachen R. des dreifachen Mordes und des 108-fachen Mordversuchs schuldig. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, zusätzlich wurde eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verfügt. Die Verteidigung kündigte Nichtigkeitsbeschwerde an, das Urteil ist nicht rechtskräftig. R. verfolgte die Verkündung völlig teilnahmslos. Die Staatsanwaltschaft gab keine Erklärung ab.

Die Jury war der Argumentation von Psychologin und Gutachterin Anita Raiger gefolgt – die, anders als Kollegen, R. ohne Umschweife als zurechnungsfähig definiert hatte. Alen R. habe gewusst, was er tat, die Tat geplant und ausgeführt, führte Raiger am Donnerstag im Grazer Straflandesgericht aus. Sie sei nicht der Meinung der Gerichtspsychiater, die in Gutachten von einer "paranoiden Schizophrenie" sprachen.

Erstdiagnose Schizophrenie

Raiger hat R. begutachtet, als dieser noch "nüchtern" war, noch vor den Einweisungen in die psychiatrischen Abteilungen, wo ihm aufgrund der Erstdiagnose Schizophrenie hohe Dosen an Psychopharmaka verabreicht wurden.

Ihr gegenüber habe Alen R. ein ganz anderes Bild gezeigt als bei Gericht, wo er sehr sediert wirke. "Er war unsicher, ängstlich, hatte Angst vor der Haft. Und was ihn am meisten belastet hat, war die Trennung von den Eltern. Er hatte zuvor keinen Tag ohne seine Eltern verbracht", sagte Raiger. Sie habe in Gesprächen mit ihm keinerlei psychotische Auffälligkeiten wahrgenommen. Er zeigte psychopathologische "Störungen", aber keineswegs eine ausgeprägte paranoide Schizophrenie.

"Lügenbereitschaft"

Alen R. habe eine "völlig gestörte Gefühlslage" und könne etwa nicht nachvollziehen, warum ihn seine Frau verließ. Die schwere emotionale Störung zeige sich auch in "hoher Lügenbereitschaft". Raiger sah Diskrepanzen in Rs. Aussagen: "Er sagte, er fühle sich von dunklen Männern verfolgt. Warum fährt er dann Kinder und Frauen nieder, wenn dunkle Typen die Verfolger sind?"

Sie sei nach intensiven Befragungen und Testungen zu dem Schluss gekommen, dass es sich eindeutig um das Muster einer "Amokfahrt" handle. Das Persönlichkeitsbild der Amokläufer weise stets ähnliche Züge auf: nicht empathisch, extreme Probleme mit dem Selbstwert, hohe Affinität zu Waffen, häufiger Alkohol- oder Drogenkonsum. Zudem zeichne sie ein großes Bedürfnis nach "Macht und Männlichkeit" aus, sagt die Psychologin. Der Tatort sei immer der öffentliche Raum, um optimale mediale Aufmerksamkeit zu finden.

Der psychologische Angelpunkt sei eine "hegemoniale Männlichkeit": der Mann als Erzeuger, Ernährer, Beschützer. Dieses Konzept sei aus Sicht Alen Rs. in seinem Leben sukzessive völlig zerstört worden. Zwei Frauen verlassen ihn, und er bekommt, nachdem seine Frau ins Frauenhaus geflüchtet ist, ein Betretungsverbot. Also sieht er auch seine Eltern nicht. Mit der Frau ist auch die Einkommensquelle weg. Das alles war kurz vor der Amokfahrt.

Als er von zu Hause weggewiesen wurde, habe er sich "wie ein Hund" behandelt gefühlt. Er habe nach Schuldigen gesucht. Wenn diese Phase des Aggressionsaufbaus nicht gestoppt werde, stehe am Ende die Ausführung der Wutentladung.

Es war, sagte Raiger, ein Akt der Rache an der Gesellschaft. Geplant und ausgeführt, so sieht es die Psychologin, nach dem Muster des Computerspiels "Grand Theft Auto" (GTA), eine Mischung aus Auto- und Shooterspiel, das er spielte. "Er steht an der roten Ampel, fühlt sich bedroht, dann wird es grün, er gibt Vollgas, jetzt geht es los, volle Kanne. Ziel erreicht. Game over." (Walter Müller, 29.9.2016)