Am Qinghai-See: unmöblierte Landschaft, weiter Horizont. Für Chinesen ist ein Foto vor dieser Landschaft ein Muss. Deshalb muss der Europäer für etwas Einsamkeit weit gehen.

Foto: "The Sky Is the Limit"-Productions / R. Schmitt

Die Sonne steht schon tief über Xining an diesem Septemberabend. Und die Höhenluft grüßt die eben aus dem triefend schwülen Peking eingeflogenen Gäste mit einem bissigen "Ni hao". Es ist Herbst, von der vielgepriesenen Sommerfrische in der Qinghai-Provinz ist nur eine vage Ahnung geblieben. Die Saison, sie neigt sich dem Ende zu.

Herr Chang, der Dolmetscher, erzählt, was sich hier so tut im tibetischen Hochland. Zwei Millionen chinesische Touristen kämen jedes Jahr hierher in die Qinghai-Provinz und 200.000 ausländische. Für Letztere sei die Provinzhauptstadt Xining meistens der Ausgangspunkt einer Zugreise nach Lhasa. "Aber derzeit gehen die Geschäfte mit den Ausländern nicht sonderlich gut", klagt Herr Chang. Die Preise seien zu hoch. Hier und überhaupt in ganz China. Seien für Ausländer früher Vier-Sterne-Hotels der Mindeststandard gewesen, seien es heute Drei-Sterne-Häuser. Manche Reiseveranstalter, wie Studiosus, kämen gar nicht mehr her.

Infrastruktur auf Pump

Dennoch ist mehr als ausreichend Geld vorhanden. In Xining schießen immer gleiche Hochhäuser wie Schwammerln aus dem Boden. Tunnel, Zugtrassen und Autobahnen werden rund um die Stadt gebaut, als gäbe es kein Morgen. Provinz und Zentralregierung in Peking investieren auf Pump Unsummen in Infrastrukturprojekte. Auch noch die letzte Provinz im weit von Peking entfernten Westen Chinas soll glänzen, damit sich der "chinesische Traum" materialisiert, den Staatspräsident Xi Jinping als Parole für seine Herrschaftszeit ausgegeben hat. Alle Chinesen sollen bald in "bescheidenem Wohlstand" leben (siehe Interview Max Zenglein).

Bis es so weit ist, wird es allerdings noch ein langer, langer Marsch werden. Vor allem, wenn dieser Traum nachhaltig sein soll. Denn dann müssen schmerzhafte Strukturreformen umgesetzt und das gesamte Wirtschaftsmodell des Landes umgestellt werden. Die großen Worte des Staatschefs müssen Substanz, die Wirtschaft muss einen höheren Grad an Wertschöpfung bekommen.

Geld und Höhenluft

Dazu sollen unter anderem Touristen aus dem Ausland mit ihren Devisen beitragen. Aber deren Zahl stagniert seit Jahren, 2015 ist sie sogar etwas gesunken: auf knapp unter 26 Millionen Ankünfte (minus 1,4 Prozent im Vergleich zum Jahr 2014). Die Journalisten, die neuerdings bis nach Qinghai gebracht werden, sollen deswegen die Vorzüge und Schönheiten der Provinz an alle weitergeben, die "Geld haben und die Höhenluft vertragen".

Naturschönheiten gibt es in der Tat einige zu entdecken. Aber eben auch den bemerkenswerten chinesischen Trend, aus jedem Idyll verlässlich eine Art Disneyland zu machen. Am Qinghai-See, einem der größten Salzseen der Welt, ist das gut zu beobachten.

Hier gibt es viel unmöblierte Natur. Jedes Jahr fahren hunderttausende chinesische Touristen durch, weil sie vor allem ein Foto machen wollen: grüne Wiesen, türkiser See, blitzblauer Himmel, tibetische Zelte, Yaks, ein Rapsfeld, manchmal sogar eine Plastikblumenwiese – das ist die Kulisse für den Schnappschuss. Dem Naturerlebnis, für das ein durchschnittlicher Europäer womöglich einige Tausend Flugkilometer auf sich nehmen würde, ist das eher abträglich. Selbst eine lauschige, stillgelegte Torpedoteststation der chinesischen Volksbefreiungsarmee mitten im See kann das nicht kompensieren.

Andere Perspektive

Der Exotikfaktor allein reicht nicht mehr aus, um in die Gegend zu locken. Dafür ist die globalisierte Welt inzwischen deutlich zu klein geworden. Für viele ausländische Touristen mag der chinesische Zugang zum Thema eine andere, aber nicht unbedingt eine erstrebenswerte Perspektive sein. Dementsprechend kommt das Gros der Besucher Festlandchinas aus Hongkong, Macau und aus Taiwan, das Peking als abtrünnige Provinz betrachtet.

Das gilt umso mehr, als die Preise deutlich zu hoch sind für das, was der Reisende geboten bekommt. "Vor ein paar Jahren hat man ein einfaches Essen um 30 Yuan bekommen, heute kostet es 50 Yuan (knapp sieben Euro, Anm.)", sagt ein Begleiter aus der Delegation. Seit 2010 seien die Preise um 50 Prozent gestiegen, Euro und US-Dollar im Vergleich zur chinesischen Währung im Gegenzug eher gefallen. Das spüren die Chinesen im Portemonnaie, aber natürlich auch die Touristen.

Zurück in Xining. Rushhour. Der chinesische Traum, er bringt auch ziemlich viel Stau mit sich, weil selbst die größten neuen Straßen nicht ausreichen, um mit der Motorisierung von 1,35 Milliarden Menschen mitzuhalten. Leuchtreklamen schreien den neuen Wohlstand in die Nacht. Im properen Sofitel an der Wu-Si-Xi-Straße müssen sich angeschlagene Herren, die bei den üblichen Abendgelagen zu ambitioniert ins Glas geschaut haben, in ihre Zimmer schleppen lassen. Die beeindruckende Shoppingmall gleich daneben bietet alles – außer Kundschaft.

... und Wirklichkeit

Traum und Wirklichkeit liegen in diesem Teil Chinas – und vielleicht nicht nur in diesem – noch deutlich auseinander. Aber: "Nur wenn wir unsere individuellen Träume in das nationale Anliegen integrieren, können wir Großes erreichen", schrieb Staatschef Xi einst in einem Brief an Studenten. Damit bleibt klargestellt: Träume mögen individuell gedeutet werden, von der Partei-Leitideologie aber dürfen sie nicht abweichen. (Christoph Prantner, 2.10.2016)