Für den kleinen Paul beginnt der Arbeitstag in der Dunkelheit. Um vier Uhr morgens. Stall ausmisten, Milch ins Dorf tragen, sensen. Paul muss auf einem Bauernhof in dem Schweizer Dorf Nusshof bei Basel schuften. Vor der Schule, nach der Schule. Mit der Familie darf er nicht am Tisch sitzen. Abends weint Paul, das sogenannte Verdingkind. Die Behörden hatten ihn in den fünfziger Jahren seinen Eltern weggenommen. Sie konnten für ihn nicht sorgen.
Zunächst kam der Bub in ein Jugendheim. Dort wurde er "nach Strich und Faden ausgebeutet", erinnert sich Paul Richener (67) heute. Nach dem Heim malochte er 13 Jahre lang auf dem Bauernhof. "Als Verdingbub warst Du ein Nichts", fasst Richener die schlimme Zeit zusammen.
Der Fall Paul Richener ist nur einer von vielen: Nach Schätzungen leben noch bis zu 15.000 Männer und Frauen in der Schweiz, die wie er in ihrer Kindheit und Jugend schwere Diskriminierung, Erniedrigung und Gewalt erdulden mussten.
Auszahlung im Jahr 2017
Jetzt stellt sich die Schweiz diesem düsteren Kapitel: Die früheren Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsarbeit sollen eine "Solidaritätszahlung" von bis zu 23.000 Euro erhalten. Insgesamt stehen rund 276 Millionen Euro für die betagten Menschen bereit. Das entschied das Schweizer Parlament am Freitag. Für viele Opfer kommt die Wiedergutmachung zu spät. Denn zwischen dem Ende der fürchterlichen Praktiken Anfang der achtziger Jahre und den ersten Auszahlungen, voraussichtlich 2017, werden Jahrzehnte verstrichen sein.
Die Behörden konnten bis 1981 Kinder von Armen und Alkoholikern in Heime sperren oder zur Zwangsadoption freigeben. Zu den Opfern zählten auch Waisenkinder und Kinder geschiedener Eltern. Viele wurden Bauern oder kleinen Betrieben gegeben, wo sie faktisch Zwangsarbeit leisten mussten. Die Kinder wurden gedemütigt, geschlagen und nicht selten sexuell missbraucht. Zudem ordneten die Ämter Zwangssterilisierungen bei sozial schwachen und kranken Menschen an.
Gegen das Vergessen
Später wollte die offizielle Schweiz davon nichts mehr wissen. Erst 2013 erinnerte die Regierung an die Qualen. Als treibende Kraft profilierte sich Justizministerin Simonetta Sommaruga von den Sozialdemokraten. In der Schweiz sei es sogar möglich gewesen, Kinder wegzusperren, nur weil deren Lebenswandel nicht den Moralvorstellungen entsprach. "Stellen Sie sich das vor", so Sommaruga im Parlament.
Auch die sogenannte Wiedergutmachungsinitiative ließ nicht locker und forderte einen Hilfsfonds mit 460 Millionen Euro für die überlebenden Verdingkinder, Waisen, Heimbewohner und Zwangssterilisierten. Den Parlamentsbeschluss lobte Guido Fluri von der Initiative als "historisch".
Ehemalige Verdingkinder wie Paul Richener wollen nicht, dass die Leiden wieder in Vergessenheit geraten. Richener, der es in seinem Ort Nusshof bis zum Bürgermeister gebracht hat, arbeitet an einem Buch, "das meine Vergangenheit in allen Einzelheiten wiedergibt". Die Erinnerungen sollen 2017 erscheinen. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 30.9.2016)