PRO: Keine Halbgötter in Hermelin

von Nina Weißensteiner

Lange galten die Verfassungsrichter hierzulande quasi als unantastbare Halbgötter in Hermelin. Nur einzelne Volkstribune mit fragwürdigem Verhältnis zum Rechtsstaat – wie der verstorbene Oberkärntner angesichts des historischen Ortstafelspruchs – rüttelten marktschreierisch an ihrem Urteilsvermögen, um das Höchstgericht als gesamte Institution zu beschädigen.

Spätestens seit dem Entscheid, die gesamte Hofburg-Stichwahl wegen unkorrekter Vorgänge rund um die Briefwahl aufzuheben, fragt sich nun aber die halbe Nation inklusive namhafter Verfassungsexperten, ob das Wiederholen des gesamten Urnengangs wirklich nötig war.

Weil am Verfassungsgerichtshof ein Schweigegelübde herrscht, entsteht allzu leicht der Eindruck, die finale Rechtsauslegung würde hierzulande von allen Höchstrichtern mit gleicher Vehemenz vertreten. Das Gegenteil ist oft der Fall. Daher könnte das Publikmachen abweichender Meinungen dem Ansehen des Höchstgerichts nützen. Gerade bei komplexen Materien würde transparent, wie das vierzehnköpfige Organ meist erst nach zig Abstimmungen zu den folgenschweren Erkenntnissen gelangt ist.

Den Druck, für ein Votum öffentlich geradestehen zu müssen, werden Holzinger, Schnizer und Co aushalten. Denn jeder einfache Richter, der einen Mafia-, Neonazi- oder Jihadistenprozess leitet, ist vor wie nach seiner Rechtsprechung wohl Bedenken ganz anderen Kalibers ausgesetzt. (Nina Weißensteiner, 30.9.2016)

KONTRA: Einladung zur Diffamierung

von Gerald John

Für unsereins wäre es ein gefundenes Fressen: Würde der Verfassungsgerichtshof nach gefällten Urteilen abweichende Meinungen seiner Mitglieder publikmachen, müssten diese mit vielen Anrufen von Journalisten rechnen. Schließlich bergen seine Entscheide, siehe Präsidentenwahl, mitunter politische Brisanz – und ein Konflikt bietet guten Stoff für eine Story.

Doch nicht nur die Medien würden sich für die Abweichler an den Höchstgerichten brennend interessieren. Parteisekretäre, Lobbyisten und andere Stimmungsmacher könnten der Verlockung erliegen, jene Verfassungshüter, die eine unliebsame Haltung vertreten, als willfährige Parteigänger zu diskreditieren. Maßstäbe hat diesbezüglich zu Lebzeiten der blaue Übervater Jörg Haider gesetzt.

Die Saat der Zwietracht fiele auf fruchtbaren Boden, weil es tatsächlich die Regierungsparteien sind, die sich die Besetzung des Verfassungsgerichtshofs ausschnapsen. Zwar handeln die ins Amt gehievten Damen und Herren in aller Regel keineswegs wie devote Gefolgsleute, doch allein der Umstand, dass ein Einzelner seinen Posten einem roten oder schwarzen Ticket verdankt, verleiht einer gezielten Diffamierungskampagne Plausibilität.

Das Prinzip der Dissenting Opinion würde dem Land vielleicht manche spannende Debatte bescheren – aber auch das Vertrauen der Bevölkerung in eine zentrale demokratische Institution untergraben. (Gerald John, 30.9.2016)