Auf der Strandpromenade in Nizza wurden Blumen für die Opfer abgelegt.

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Warum richtete Mohamed Lahouaiej Bouhlel am 14. Juli auf der Strandpromenade von Nizza ein Blutbad mit 86 Todesopfern an? Die Frage ist bis heute ungeklärt. Am Samstag sickerten erstmals Details aus der Untersuchung der Staatsanwaltschaft durch. Pariser Medien zitieren die Aussagen diverser Angehöriger.

Bouhlels Ex-Gattin Hajer spricht etwa von einem gewalttätigen Mann ohne jeden Bezug zur Religion. Er habe geraucht, Alkohol getrunken und Schweinefleisch gegessen. Die Besucherin eines gemeinsamen Sportklubs schildert Bouhlel als einen "sexuell Besessenen", der mehrmals aus der Salsa-Stunde geworfen worden sei, weil er Frauen belästigt habe. Sein Schwager – dem er eine aufblasbare Puppe zeigte – erklärte den Ermittlern: "Er hatte den Teufel in sich." Einmal habe er vor seinen drei Kleinkindern eine Puppe mit einem Messer "erstochen".

Keine Bekennertexte

Auf seinem Handy und Computer fand die Polizei jede Menge Pornomaterial, aber auch Bilder von Enthauptungen und Gewaltakten der Terrormiliz IS. Sonst aber keinerlei IS-Ideologie, auch keine Bekennertexte. Auch von einem Hass auf Frankreich, einem Hauptmotiv vieler Banlieue-Terroristen, war offenbar nie die Rede. "Er liebte Frankreich und die Franzosen, während er die Araber hasste", meinte ein Vertrauter über den 31-jährigen Tunesier. Also eher Selbsthass? "Er war auf jeden Fall pervers, mit einem Blick wie ein Lamm und zugleich wie ein Wolf", gab die Gerantin des Sportklubs zu Protokoll. "Er war fragil und beeinflussbar, aber nicht gefährlich und noch weniger ein Terrorist." Ein Freund berichtete, nach den Anschlägen in Paris habe ihm Bouhlel sogar ein SMS mit dem Inhalt "Je suis Charlie" geschickt.

Und doch fuhr dieser Mann mit einem 19-Tönner in die Menschenmenge, um möglichst viele Menschen zu töten. War es "purer Sadismus", wie ein anderer Bekannter erklärte? Ein Verwandter erinnerte sich, dass der tunesische Chauffeur Ende Juni begonnen habe, in seinem Lieferwagen den Koran zu zitieren. Plötzlich wollte er keine Musik mehr hören, da er dies als "Sünde" bezeichnete; und mit einem Mal kritisierte er Freunde, wenn sie Bermudashorts trugen. Von da zu einem IS-Apologeten ist allerdings noch ein weiter Weg.

Tat geplant

Auch wenn Bouhlel nicht dem typischen Terroristenbild entspricht, steht sein Vorsatz außer Frage: Er hatte die Tat tagelang minutiös geplant. Und vermutlich nicht allein; fünf Personen, die in irgendeiner Art – und möglicherweise ohne komplette Mitwisserschaft – zum Tathergang beigetragen hatten, sitzen wegen vermuteter Komplizenschaft in Haft. Die neusten Erkenntnisse zur Person Bouhlels erfolgen nur wenige Wochen, nachdem die Polizei in Paris mehrere Frauen und Minderjährige kurz vor der Verübung eines Attentats festgenommen hat.

Das Profil all dieser "Terrorlehrlinge", wie sich Pariser Ermittler ausdrücken, beunruhigt die Franzosen nicht minder als gut ausgebildete IS- oder Al Kaida-Täter. Vielen wird erst jetzt klar, wie wenig es heute braucht, damit geistig labile Personen aus den Banlieue-Zonen in den blanken Terror "kippen" – wobei ihnen die Islamismus-Ideologie blosser Vorwand zu sein scheint. (Stefan Brändle, 1.10.2016)