Nachdem Lamya Kaddor Morddrohungen von Rechten, die sie unter anderem "vergasen" möchten, bekommen hatte, ließ sie sich vergangene Woche als islamische Religionslehrerin bis 2017 beurlauben.

Foto: Rowohlt / Dominik Asbach

Bis vergangene Woche gab die Islamwissenschafterin Lamya Kaddor noch islamischen Religionsunterricht an einer Schule in Dinslaken im Ruhrgebiet. Die Tatsache, dass fünf ihrer ehemaligen Schüler als "heilige Krieger" in den Dschihad nach Syrien gezogen sind, analysierte sie in ihrem Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen". Die jüngsten Morddrohungen von Rechten gegen sie: "Heil Hitler!" und der Wunsch, sie zu "vergasen", waren nun der Grund, dass sich Kaddor – auch zum Schutz ihrer Schüler und Kollegen – bis Sommerbeginn 2017 beurlauben ließ.

Im STANDARD-Interview spricht sie anlässlich ihres neuen Buchs "Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht" über "Deutschomanie", äußert Verständnis für Ängste, aber "nicht für das Kompensieren durch Fremdenfeindlichkeit oder völkisches Denken", und sieht nicht nur bei Zuwanderern, sondern auch bei der Aufnahmegesellschaft eine "Bringschuld" in Sachen Integration. Zu Burka und Niqab meint sie: "Meins sind sie nicht" – aber sie deswegen für alle anderen Frauen generell verbieten? Nein, auch wenn die Burka "unislamisch" sei.

STANDARD: Ihr neues Buch heißt "Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht". Wer verkörpert denn diese Gefahr?

Kaddor: Im Grunde genommen alle, die meinen, sie bräuchten Pluralität und freiheitliche Rechte nicht mehr, und sie auch ablehnen für unser Zusammenleben.

STANDARD: Sie haben dazu einen neuen Typus identifiziert – die "Deutschomanen". Wie sind die?

Kaddor: Sie denken völkisch und beziehen nur zum Teil klassisch rechtsextreme Positionen. Rechtsextremismus hat ja ganz bestimmte Eigenschaften: Gewaltakzeptanz, Antisemitismus, die Bereitschaft, im Untergrund vernetzt zu arbeiten, und so weiter und eben auch explizit völkisches, chauvinistisches Denken. Die Deutschomanie besteht darin, sich von fast allen diesen Pflöcken vordergründig getrennt zu haben, eben bis auf das völkische Denken, das zudem übermäßig betont wird – und sich gegenwärtig besonders in der öffentlichen Ablehnung und im Hass auf Muslime und Flüchtlinge ausdrückt. Die Deutschomanie zeigt sich in Forderungen wie: Menschen, die vielleicht schon in der vierten Generation in Deutschland leben, müssten sich anpassen, obwohl sie längst Deutsche sind. Pegida und Teile der AfD würde ich als deutschoman bezeichnen.

STANDARD: Wie soll man gegen diese Fremdenfeinde ankämpfen?

Kaddor: Auf keinen Fall mit "feinem Schweigen" oder Ignoranz, sondern durch irgendeine Art des Nichteinverstandenseins. Es ist wichtig, solchen Menschen direkt oder auch im Internet zu sagen: Ich sehe das völlig anders. Das reicht schon.

STANDARD: Sie gehen aber weiter.

Kaddor: Ja, wie bei Islamisten plädiere ich für eine Ausgrenzung der absolut unverbesserlichen Fremdenfeinde, die wirklich in keiner Weise gesprächsbereit sind, die nur hetzen und Hass verbreiten. Ich habe inzwischen so viele Menschen getroffen, dass ich sagen kann, es gibt welche, die wollen schlichtweg keinen Dialog, die wollen Menschen wie mich ausgrenzen und mir nur sagen, dass ich hier nichts zu melden habe, weil Deutschland ja den Deutschen gehört. Da darf man getrost sagen, das Gespräch ist hier beendet.

STANDARD: In Ihrem Buch stellen Sie angesichts der Flüchtlingsintegration die Frage: "Muss sich nicht auch die Mehrheitsgesellschaft ändern?" Muss sie sich wirklich ändern, immerhin kommen oder wollen die anderen ja zu uns, weil unsere Gesellschaft attraktiv ist. Sie sprechen von einer "Bringschuld" der Aufnahmegesellschaft.

Kaddor: Minderheiten, die einwandern, haben selbstverständlich eine Bringschuld. Aber mir geht es hier nicht so sehr um Flüchtlinge und Einwanderer, mir geht es mehr um Menschen, die längst Jahrzehnte in Deutschland sind oder hier geboren werden in dritter, vierter Generation. Ich will in dem Buch zum Ausdruck bringen, dass die Mehrheitsgesellschaft vor allem ihnen gegenüber auch eine Bringschuld hat. Und die besteht darin, diese Menschen zumindest auf Augenhöhe zu respektieren. Diese Forderung wurde lange ignoriert, obwohl wir uns in der Theorie einig sind, dass Integration ein gemeinsamer Prozess zueinander ist. Ich finde es nur konsequent, jetzt auch mal auf die Mehrheitsbevölkerung zu blicken und zu sagen, dass es da auch Defizite gibt.

STANDARD: Wo sehen Sie Defizite?

Kaddor: Gerade in der Bildungsfrage gibt es große Defizite. Seit Jahrzehnten ist es in Deutschland so, dass es jedes Kind mit dem sogenannten Migrationshintergrund viel schwerer hat, den gleichen Bildungszugang zu bekommen wie ein deutschdeutsches Kind. Von sozialer Gerechtigkeit träumen wir schon lange.

STANDARD: Wie würden Sie gelungene Integration definieren?

Kaddor: Mein Vorschlag wäre: mehr Verfassungspatriotismus, mehr auf freiheitliche Werte, Gesetze, Regeln, Rechte aller pochen. Ich glaube, dass uns das alle eint in diesem Land: der Rechtsstaat, die Demokratie. Natürlich muss Deutsch dabei als Sprache eine zentrale Rolle spielen, aber auch Nation, nur jenseits des völkischen Denkens. Außerdem darf man dazu nicht nur die Mehrheit formulieren lassen, man muss auch mal Minderheiten formulieren lassen. Da kann auch etwas Konstruktives herauskommen.

STANDARD: In jüngster Zeit wird über ein Burka- beziehungsweise Niqab-Verbot geredet. Was halten Sie davon? Modische Petitesse oder doch Ausdruck eines problematischen Religions- und Frauenbilds?

Kaddor: Sagen wir's mal so: Meins sind Burka und Niqab nicht, aber nur, weil etwas nicht meins ist, sollte ich es anderen Frauen nicht generell verbieten. Aus meiner theologischen Sicht ist eine Burka unislamisch. Aber auch kein vernünftiger islamischer Theologe würde heute noch sagen: "Diese Gesichtsschleier sind heute Pflicht für Frauen, weil es Koran oder Sunna besagen." Und trotzdem machen das Frauen. Ein Verbot würde diese Frauen und auch andere Muslime insgesamt in Zeiten der Islamfeindlichkeit weiter in die Ecke drängen. Ich bin sehr dafür, dass einzelne Institutionen wie Banken oder Schulen für sich festlegen dürfen, Gesichtsverhüllungen zu untersagen. Aber ein allgemeines Verbot seitens des Staates halte ich derzeit für überflüssig. Es ist eine Scheindebatte.

STANDARD: Können Sie bestimmte Ängste auch verstehen? Da kommen viele neue Menschen mit anderen Vorstellungen von einem guten Leben, mit religiösen Ideen, die sie auch hier in einer säkularen Gesellschaft sichtbar leben wollen.

Kaddor: Selbstverständlich habe ich dafür Verständnis, ich bin ein Teil dieser Gesellschaft, auch ich spüre diese Ängste, zwar nicht in mir, aber bei meinen Mitmenschen, und wenn es echte Ängste sind, muss man sie auch ernst nehmen. Ich rate nur davon ab, sich Gruppen anzuschließen, die diese Ängste missbrauchen, um Stimmungsmache zu betreiben. Für Angst bringe ich großes Verständnis auf, für das Kompensieren durch Fremdenfeindlichkeit oder völkisches Denken nicht.

STANDARD: Sie sagen: "Wir müssen uns mehr über Identität und Integration unterhalten, weniger über Religion." Aber ist es nicht oft die Religion, konkret der Islam, der als Identitätsressource für besonders große Integrationsprobleme sorgt?

Kaddor: Das würde ich so nicht sehen. Das ist auch wissenschaftlich so nicht haltbar, dass der Islam für Integrationsprobleme besonders verantwortlich gemacht werden kann oder die Religion der ausschlaggebende Faktor ist, warum Menschen besser oder schlechter integriert sind. Dieses Bild bzw. Zerrbild beziehen wir stark aus öffentlichen Laien-Diskursen, zum Teil medial getragen. Das ist fatal. Auch über Sinti und Roma oder Homosexuelle wurde und wird bisweilen nicht viel besser gesprochen. Auch sie werden verunglimpft. Integrationsprobleme haben vielleicht an dritter oder vierter Stelle etwas mit Religion zu tun, aber zuallererst sind es sozioökonomische Gründe und eben völkische Einstellungen. Und davon sind Muslime ebenso betroffen wie Deutschrussen oder Deutschitaliener oder Deutschdeutsche. Vom Prinzip her ist das keine Frage der Herkunft, geschweige denn der Religion. Wieso bekämpfen wir dieses Zerrbild nicht stärker? Stattdessen geben wir und die Politik uns zu schnell zufrieden mit Aussagen wie: Ja, daran ist der Islam schuld.

STANDARD: Welches Rezept schlagen Sie gegen Populisten vor?

Kaddor: Wir müssen endlich wieder gute Politik bekommen oder machen. Aufrichtig und sachbezogen. Nicht nur auf die nächste Wahl schielen. Zugleich muss man aber auch überlegen, dass Demokratiefähigkeit etwas ist, das wir mehr schulen müssen. Bestimmte Teile unserer eigenen Bevölkerung scheinen das verlernt oder gar nicht erst gelernt zu haben. Und denen müssen wir uns – jenseits der Flüchtlingsfrage – auch widmen. Außerdem werden oft Fragen nach den Gründen von Fremdenfeindlichkeit, Alltagsrassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie tabuisiert. Und die, die so etwas dann ansprechen, werden als Spinner abgetan. Ja, was denn, sind doch nicht so viele, die diese Leute wirklich wählen. Ja, und? Ihre öffentliche Wahrnehmung gerade dank Internet ist aber deutlich höher. Auch größere Bewegungen haben mal mit zehn, zwölf Prozent angefangen. Ich würde mich nicht damit zufriedengeben, zu sagen, ist nur eine kleine Gruppe, erledigt sich irgendwann von selber. Es wird sich nicht von selber erledigen. Wir müssen handeln, aufklären und gegensteuern. (Lisa Nimmervoll, 4.10.2016)