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Auf der Suche nach einem Ausweg: Die neue Tory-Chefin Theresa May sprach am Parteitag über den Zeitplan und die Vorgehensweise der britischen Regierung in Sachen Brexit.

Foto: Reuters/Melville

Es hat Zeiten gegeben, in denen das offizielle Programm bei den Jahrestreffen der britischen Konservativen kaum eine Rolle spielte. Alles konzentrierte sich auf die traditionell am Mittwoch gehaltene Abschlussrede des Parteivorsitzenden, die Ansprachen anderer wichtiger Politiker dienten bestenfalls dem Amüsement der Delegierten. Die politisch brisanten, oft kontroversen Themen wurden am Rande diskutiert, in sogenannten "fringe meetings", die von Lobbygruppen und Parteizirkeln organisiert und häufig von Unternehmen gesponsert werden.

In Birmingham ist diesmal vieles anders. Dazu gehört, dass es zwar kostenlos Wein, Wasser und Kaffee gibt, feste Nahrung aber Mangelware bleibt. Vor allem hat die neue Tory-Chefin Theresa May die Tagesordnung über den Haufen geworfen und diesmal gleich zu Beginn, nämlich schon am Sonntagnachmittag, das Wort ergriffen. Die 20-minütige Ansprache der 60-Jährigen über Zeitplan und Vorgehensweise der Regierung in Sachen Brexit dominierte die Gemüter auch am Montag, der eigentlich den Aussichten für die britische Wirtschaft gewidmet war.

Rhetorik deutet auf Rückzug auch aus Binnenmarkt hin

Zumal diese Aussichten viel zu tun haben mit dem nun verkündeten Zeitplan, auf den Unternehmen und das Finanzzentrum City of London in den vergangenen Wochen immer energischer drängten. Binnen sechs Monaten, spätestens Ende März nächsten Jahres, hat May gesagt, werde sie Artikel 50 des Lissabon-Vertrags aktivieren, der den Austritt innerhalb von zwei Jahren in Gang setzt. Was am Ende der Verhandlungen mit den 27 EU-Partnern stehen solle, ließ die Regierungschefin naturgemäß offen. Jedenfalls werde die Insel dann "ein völlig unabhängiges, souveränes Land sein".

Diese von den EU-Feinden übernommene Rhetorik deutet darauf hin: May zielt auf den sogenannten "harten" Brexit ab, also den kompletten Rückzug Großbritanniens nicht nur vom Brüsseler Verhandlungstisch, sondern auch aus dem Binnenmarkt. In ihrer nüchternen Ansprache, vom Manuskript abgelesen anstatt wie sonst üblich vom Teleprompter, tat May den zuletzt viel diskutierten Unterschied zwischen einem "weichen" und einem "harten" Brexit zwar als "falschen Gegensatz" ab. Davon ließen sich die Währungshändler nicht beeindrucken: Am Montag früh rutschte das Pfund um knapp ein Prozent auf ein Drei-Jahres-Tief gegenüber Euro und Dollar ab.

Viel Emotion, wenig Strategie

Auf die negativen Konsequenzen des harten Brexit – beispielsweise was zukünftige Investitionen aus Übersee angeht – hat kürzlich die japanische Regierung in undiplomatischer Klarheit hingewiesen. Finanzminister Philip Hammond erwähnte am Montag ausdrücklich die Zögerlichkeit mancher Unternehmen, teure Zukunftsentscheidungen zu treffen. Einerlei, lautete tags zuvor Mays Signal: Sollten die 27 EU-Partner auf der uneingeschränkten Personenfreizügigkeit als elementarem Bestandteil des Binnenmarktes bestehen, müsse Großbritannien seinen eigenen Weg gehen. Schließlich stand die Einwanderung aus Mittel- und Osteuropa im Mittelpunkt der Referendumskampagne. Mays Regierung kommt nicht daran vorbei, den Zustrom zu drosseln.

Die EU-feindlichen Boulevardblätter jubeln über Mays kompromisslose Rhetorik. Vom "Freiheitsmarsch" schwärmte die Sun, die Mail bewunderte die "historische Rede", und der Express freute sich, es habe in der Einwanderungsfrage "keine Kapitulation" gegeben. Die Klarheit in der Terminfrage lobte auch die Financial Times, mäkelte aber, Mays Äußerung habe "viel patriotische Emotion und wenig Strategie" geboten. Und die konservative Times nahm erstaunlich klaren Anstoß an der Beschreibung des Austritts als Schritt in Richtung echter Unabhängigkeit und Souveränität: Das sei "einfach nicht wahr", die Botschaft "unverantwortlich". Die Regierung solle die Vorteile des Binnenmarktes erläutern und den Menschen sagen, "dass größere Souveränität auch Kosten verursacht".

Diesen Hinweis ersparte May ihrem überwiegend EU-feindlichen Parteivolk. Im Parlament, vor allem aber am Brüsseler Verhandlungstisch wird die Premierministerin daran in aller Deutlichkeit erinnert werden. Den Brexit-Verweigerern in Ober- und Unterhaus sowie den Initiatoren mehrerer Verwaltungsverfahren, die auf eine Verhinderung des EU-Austritts abzielen, schrieb May hingegen eine klare Botschaft ins Stammbuch: "Diese Leute verteidigen nicht die Demokratie, sondern versuchen sie zu untergraben." Tatsächlich hatte ja das Parlament per Gesetzesbeschluss seine Kompetenz ans Volk abgetreten.

Ernste Zeiten verlangten nach seriösen Politikern – mit diesem Motto hatte vor knapp zehn Jahren der glücklose Labour-Premier Gordon Brown für sich geworben. Der Slogan könnte auch für Theresa May und ihren Parteitag stehen. Von Euphorie jedenfalls ist nichts zu spüren. Ob das Regierungsteam, zu dem schließlich auch antieuropäische Hardliner wie David Davis und Liam Fox gehören, in den nächsten Monaten seine Aufgabe auch seriös wahrnimmt, steht auf einem anderen Blatt. (Sebastian Borger aus Birmingham, 4.10.2016)