Kein Präsident habe dem EU-Parlament je so viel Aufmerksamkeit und öffentliche Zuwendung verschafft wie Martin Schulz. Seit der Einführung der Direktwahl im Jahr 1979, die die geachtete Simone Veil an die Spitze brachte, habe die Volksvertretung selten so großen Einfluss gehabt wie heute. Darüber sind sich die meisten der 750 Kollegen der deutschen Sozialdemokraten in Straßburg einig – parteiübergreifend.
Kritische EU-Abgeordnete fügen hinzu, dass Schulz’ offensive Suche nach Publicity aber vor allem einem nützen soll: ihm selbst.
Beides ist schwer zu übersehen: Wohin man auch blickt oder hinhört, der Mann mit der eindringlichen Stimme tritt auf der politischen Bühne Europas seit Monaten intensiv wie kein anderer auf. Selbst zeitig in der Früh haben die EU-Abgeordneten ihn im Ohr, wie sich Dienstag in Straßburg zeigte.
Während sie frühmorgens noch ins Europaviertel zur Plenarsitzung strömten, vermelden Radiostationen, was Schulz in der ARD verkündet hatte: Nach dem Referendum in Ungarn sei er für eine Verteilung der Flüchtlinge auf freiwilliger Basis, nicht mehr verpflichtende Quoten für Staaten, wie es Kommission und Parlament bisher forderten.
Wenige Stunden später die ganz große Inszenierung: UN-Generalsekretär Ban Ki-moon ist angereist, um mit den EU-Spitzen die Abstimmung zum Klimaschutzabkommens zu feiern. Auf seinen Wunsch hin habe dieser kurzfristig die Reisepläne geändert, merkt Schulz einleitend an. Auch Papst Franziskus, Frankreichs Staatspräsident François Hollande, viele Regierungschefs haben sich im EU-Parlament der Debatte gestellt, nachdem er Anfang 2012 sein Amt angetreten hat. Mit dem christdemokratischen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker sorgt er seit den EU-Wahlen 2014 dafür, dass die integrationsfreundliche EU-Politik in der Vielfachkrise nicht unter die Räder kommt.
Kritiker werfen ihm an dem Punkt Klüngelei vor; auch weil Schulz Mitarbeiter seines Kabinetts in großer Zahl auf Spitzenposten in der Verwaltung gut platziert hat. Schulz polarisiert.
Ob und wie lange das so bleibt, das erscheint seit einigen Tagen nun mehr als unsicher. Anfang Jänner liefe die zwischen den großen Fraktionen 2014 vereinbarte "halbe" Amtszeit von Schulz aus. Alle Funktionen werden neu verteilt. Schulz müsste zur Hälfte der Legislaturperiode an einen Christdemokraten (EVP) übergeben.
Nun hat Schulz klar durchsickern lassen, dass er gerne noch bis zu den Wahlen 2019 Präsident bleiben würde. In Zeiten der Krise sei "Kontinuität und Stabilität" gefragt, heißt es bei den Sozialdemokraten (S&D). Sie argumentieren damit, dass mit Juncker und Ratspräsident Donald Tusk nicht drei Christdemokraten die wichtigsten EU-Ämter ausüben sollen.
In der EVP sorgt diese "Erpressung" für gehörigen Unmut. Neun von zehn EVP-Abgeordneten sprächen sich gegen eine Verlängerung für Schulz aus, heißt es. Wo käme man hin, wenn Vereinbarungen gebrochen würden, nur weil jemand aus persönlichen Gründen ein Spitzenamt wolle.
Die Frauenkarte sticht
Verärgert hat Schulz seine Koalitionspartner auch, weil er sich immer öfter für Spitzenämter in der SPD in Deutschland ins Spiel bringt. Die EVP hat beschlossen, dass sie beim Plenum im Jänner auf jeden Fall einen Kandidaten ins Rennen schickt. Er oder sie soll bei innerfraktionellen Vorwahlen im Dezember gekürt werden.
Die besten Chancen bisher werden der Irin Mairead McGuiness zugeschrieben. Sie wäre die erste Präsidentin seit Nicole Fontaine im Jahr 1999. Und "Frauen an die Macht", das verlangt üblicherweise das Parlament selbst, mehr als alle anderen EU-Institutionen. (Thomas Mayer aus Straßburg, 4.10.2016)