Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind bis zu seinem achtzehnten Geburtstag die Trennung seiner Eltern erlebt, beträgt inzwischen dreißig Prozent.

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Mama, Stiefpapa, eine Tochter aus erster Ehe, zwei Söhne, die aus der neuen Verbindung entstanden sind – was klingt wie eine typische Familiensituation von heute, war bereits vor gut zweitausend Jahren kein unübliches Modell. Schon in der Antike scheiterte die Vater-Mutter-Kind-Konstellation, wie auch gegenwärtig nicht selten, immer wieder an der Realität.

Die Ursachen damals waren natürlich andere. Vor allem der häufige Fall, dass ein Partner früh verstarb, ließ Menschen neue Bande knüpfen. Die Gründe sind somit dramatischer, das Ergebnis war dennoch ähnlich: Viele Kinder wuchsen quasi in Patchworkfamilien auf. Das ist nur einer von zahlreichen Belegen dafür, dass der Familienbegriff von jeher flexibel war oder sein musste – starr ist hingegen die Rechtsrealität, die das familiäre Zusammenleben in Österreich regelt.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts war gerade das bürgerliche Familienbild vorherrschend, es galt das Prinzip Kernfamilie. Die Frau war für Haushalt und Kindeserziehung zuständig, der Mann verdiente das Geld. Das heimische Familienrecht entstammt diesen Zeiten – und die geltenden sozialrechtlichen Regelungen leiten sich daraus ab.

Rote Reformideen

Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) startet nun einen Versuch, diesen Part ins Heute zu transferieren. Er will zusätzliche Möglichkeiten für Familien schaffen, alte Bestimmungen überarbeiten. Ein Gesetzesentwurf, der dem STANDARD vorliegt, zielt darauf ab, dass Stiefeltern, neue Lebensgefährten von Mutter oder Vater und Elternteile, die nicht mit dem Kind in einem gemeinsamen Haushalt leben, wesentlich mehr Befugnisse bekommen können.

Dem Papier zufolge sollen Karenz, Elternteilzeit und die Pflegefreistellung reformiert werden. Änderungen beim Kinderbetreuungsgeld werden zumindest angedacht. Am Freitag wurde der Entwurf des roten Ressorts dem Büro von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) übermittelt.

Der Sozialminister plant unter anderem, dass Karenz und Elternteilzeit erweitert werden: Die leiblichen Eltern hätten zwar weiterhin einen Vorzug, wollen sie auf den allerdings verzichten, sollen auch andere Bezugspersonen Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind wahrnehmen können – zumindest wenn sie mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt leben (siehe unten). Für die biologischen Eltern soll die Hürde fallen, dass man für eine Karenz einen gemeinsamen Wohnsitz braucht.

So könnten künftig beispielsweise auch Väter in Karenz gehen, die von Mutter und Kind getrennt leben. Dass sie das derzeit nicht dürfen, ist aus Sicht des Sozialministeriums sogar europarechtswidrig: Aus einer EU-Richtlinie gehe klar hervor, dass Eltern – unabhängig vom Wohnsitz – ein individuelles Recht auf mindestens vier Monate Elternurlaub haben.

Neues Unterhaltsrecht

An familienrechtlichen Bestimmungen wird ebenfalls gearbeitet. Denn auch im Justizministerium ist längst klar, dass die geltenden Gesetze nicht mehr auf dem neuesten Stand sind. Geplant ist eine Reform des Unterhaltsrechts, das an die gesellschaftlichen Ansprüche angepasst werden soll. Ziel sei es auch, dadurch eine Vereinfachung – und Beschleunigung – der Unterhaltsverfahren nach Scheidungen zu erwirken. Die Arbeiten daran sollen beginnen, sobald die Reform des Sachwalterrechts abgeschlossen ist, heißt es im Ministerium.

Experten fordern schon lange Änderungen ein. "Das Eherecht gehört entrümpelt", sagt Thomas Schoditsch, karenzierter Richter und als Assistenzprofessor am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz tätig. Österreich sei das letzte deutschsprachige Land, in dem Scheidungen noch nach dem Verschuldensprinzip ablaufen.

Das Verschuldensprinzip besagt vereinfacht: Wer nicht schuld an der Trennung ist, hat selbst nach kurzer Ehe gute Chancen auf einen großzügigen Unterhaltsanspruch. Barbara Beclin, Familienrechtlerin an der Universität Wien, hält es für falsch, den Unterhaltsanspruch davon abhängig zu machen, wer die Scheidung angeblich zu verantworten hat: "Damit sind die Gerichte überfordert." Letztlich sei dies eine moralische Frage.

Frauen als Reformverlierer

Ein Argument dafür, bei der bestehenden Praxis zu bleiben, sei die Sorge, dass "Frauen nach einer Reform verlieren". Zur Frage, wie Expartner abgesichert werden könnten, sagt Beclin: "Erster Schritt muss ein Pensionsausgleich sein. Ersparnisse, die in der Ehe angehäuft wurden, müssen 50:50 geteilt werden. Warum ist das bei den Pensionsansprüchen nicht auch so?"

Eine weitere Möglichkeit sei ein Aufstockungsunterhalt, der den Rückschlag in der Karriere, etwa durch die Kinderbetreuung, ausgleichen soll. Und, erläutert Beclin: "Für die erste Zeit nach der Trennung braucht es wohl einen höheren Unterhalt, damit man die Möglichkeit bekommt, sich auf eigene Beine zu stellen, beispielsweise eine Ausbildung zu machen."

"Das Eherecht ist auf dem Stand vom Anfang des 20. Jahrhunderts, man sollte es auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringen. Wir leben doch in einem völlig anderen Umfeld", sagt Jurist Schoditsch.

Immer mehr Singlehaushalte

Wie wir leben, weiß Christine Geserick von Institut für Familienforschung. Die Soziologin erforscht Wohn- und damit verbunden familiäre Lebensformen. Ein Trend, den sie festmacht, ist der Anstieg von Singlehaushalten. Im Jahr 1971 war jeder vierte Haushalt ein Ein-Personen-Haushalt, heute ist es mehr als ein Drittel. "Vor allem ältere Menschen leben in dieser Wohnform. Frauen ab 65 Jahren machen 26 Prozent der Ein-Personen-Haushalte aus", erklärt Geserick. Zum Vergleich: Nur jeder zehnte Mann lebt in einer Singlewohnung. Geserick betont allerdings: "Die Wohnform muss nicht unbedingt der Lebensform entsprechen. Vor allem allein lebende jüngere Menschen haben oft Partner", sagt die Forscherin.

Hohe Mieten und prekäre Jobs sind Punkte, die auch in Österreich eine Lebensform, die bislang eher belächelt wurde, häufiger werden lässt: den Nesthocker. "Der Anteil junger Erwachsener, die bei ihren Eltern wohnen, wächst stetig", sagt Soziologin Geserick. Vor allem auf Männer treffe dies zu: "Heute lebt schon jeder dritte 25- bis 29-Jährige noch bei seinen Eltern. Bei Frauen sind es nur 17,4 Prozent." Der Trend sei in allen westlichen Industriestaaten zu beobachten.

Auch bei jenen, die eine Familie gründen wollen, ist alles im Fluss: "Der Wunsch, als Kernfamilie zusammenzuwohnen, ist nach wie vor da. Er lässt sich aber immer weniger leicht umsetzen. Das sieht man auch anhand der hohen Scheidungswahrscheinlichkeit." Die Zeit, in der man in einem Familienverband lebt, würde aufgrund der hohen Lebenserwartung relativ gesehen kürzer: Familie werde immer mehr zur Phase. Daraus folgen wechselnde Wohnbedürfnisse, meint Geserick: "Früher ist man ins Haus der Eltern gezogen und hat dort sein Leben verbracht. Dies ist nicht mehr die Norm."

"Völlig blinder Fleck"

Während bei der Ehe ein in die Jahre gekommenes Recht wirkt, gibt es mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften einen "völlig blinden Fleck im Gesetz", wie es Familienrechtlerin Beclin nennt. "Nach einer Trennung hat der Partner oder die Partnerin keinen Anspruch auf Unterhalt oder auf Vermögensaufteilung. Hier gibt es gar keine Absicherung." Dabei seien das doch die gleichen Fragen wie bei der Ehe.

"Wenn bereits die Mehrzahl der Erstgeborenen außerhalb der Ehe zur Welt kommt, sollte sich der Gesetzgeber schon etwas einfallen lassen", sagt die Juristin. Derzeit behelfe man sich mit dem allgemeinen Schuldrecht, aber die Fälle, in denen geklagt werde, könne man mit der Lupe suchen. "Die Rechtsunsicherheit ist groß und dementsprechend das Prozessrisiko."

Immerhin ein Punkt ist geändert worden. Ab dem Jahr 2017 dürfen Lebensgefährten erben – allerdings nur dann, wenn es keine Verwandten gibt. "Das ist auch nicht so toll, aber wenigstens ein formaler Fortschritt", findet Beclin.

Ehelose Beziehungen, Alleinerzieher, Patchworkfamilien – historisch betrachtet sind das alles jedenfalls keine neuen Phänomene: "Das hat es immer schon gegeben, wir benennen es heute einfach anders. Wirklich neu sind eigentlich nur homosexuelle Partnerschaften mit Kind", sagt Rudolf Schipfer, Ethnologe am Institut für Familienforschung.

Familien der Zukunft

Wie Familien im Jahr 2060 aussehen könnten? Entwicklungen seien natürlich nie linear vorhersehbar, sagt Schipfer, die "Beharrungskräfte" in einer Gesellschaft seien aber stark: "Gerade in einer Situation der Unsicherheit greifen Menschen eher auf bekannte Familienmodelle zurück. Wirtschaftlich schlechte Zeiten wirken zum Beispiel ehestabilisierend." Dennoch: Werden neue Formen des Zusammenlebens notwendig, würden sie sich auch durchsetzen, erklärt Schipfer.

Die aktuelle Situation ist die folgende: In nur mehr vier von zehn österreichischen Familien sind die Eltern verheiratet. Im Jahr 1985 lebten rund 73.000 Paare gemeinsam ohne Trauschein, heute gibt es fast 400.000 solche Lebensgemeinschaften. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind bis zu seinem achtzehnten Geburtstag die Trennung seiner Eltern erlebt, beträgt inzwischen dreißig Prozent. Als unser Familienrecht in Kraft trat, wurden diese Zahlen noch nicht einmal erhoben. (Peter Mayr, Katharina Mittelstaedt, 7.10.2016)