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Orangen und Zitronen mit blauen Handschuhen. Ein Stillleben Van Goghs, zu sehen in der "National Gallery of Art" in Washington.

Foto: AP/National Gallery of Art

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Stillen bedeutet einem Baby die Brust geben und es besänftigen, wenn es vor Hunger schreit. Im Bild Mütter und Babys auf einem Flashmob in Lausanne 2014. "Direkt vom Produzenten zum Kunden" steht auf dem Schild.

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Kühe im Stall. Dem ursprünglichen Wortsinn nach die Stelle, wo Vieh unter- oder eingestellt wird.

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Der Ruf nach Stille wird wieder laut in dieser schnelllebigen, getakteten Zeit. Reizüberflutung, permanente Geschäftigkeit und Multitasking hinterlassen Spuren in uns. Es findet jedoch ein Umdenken statt. Immer mehr Menschen wollen den Lärm im Außen zum Schweigen bringen und suchen nach Wegen, dem Alltagsgetümmel zu entfliehen und die Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr zu stillen, eine Sehnsucht, die zahlreiche Bucherscheinungen1 widerspiegeln.

Lauschen wir einmal der Stille! Was hat sie uns sprachgeschichtlich zu erzählen?

Das neuhochdeutsche Adjektiv still (mittelhochdeutsch stille2, althochdeutsch stilli "ruhig, still, schweigsam", altenglisch stille "ruhig, sanft, beständig, heimlich") kennzeichnet dem ursprünglichen Wortsinn nach nicht die Absenz akustischer Eindrücke, sondern das Nichtvorhandensein von Bewegung (siehe neuenglisch still "bewegungslos, stehend", wie zum Beispiel in: Keep still! Stand still!), denn es liegt eine Wurzelverwandtschaft mit neuhochdeutsch stellen vor, einem Verb, das sich mit unzähligen Präfixen verbunden hat3 und keineswegs auf der Stelle tritt. Mittelhochdeutsch stellen bedeutet "zum Stehen bringen, gestalten, vollbringen", für altenglisch stiellan finden wir "stellen, setzen, einen Stall machen".

Auch Stall gehört – mit Bedeutungseinengung auf "Viehstall" – zu stellen (mittelhochdeutsch stal "Stand, Wohnort; Ort, wo Vieh untergebracht ist, eingestellt wird", altenglisch steall "Stand, Stelle, Zustand, Stall", neuenglisch stall mit Einengung auf "Verkaufsstand, Marktbude", ein Ort also, wo Dinge und Waren ausgestellt und zum Kauf angeboten werden.

An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs angebracht, denn das Vulgärlateinische borgt sich germanisch *stall- aus und bildet installare "jemanden in ein Kirchenamt einsetzen, mit einer Anstellung betrauen", und heute baut der Installateur technische Anlagen ein und wartet sie.

Den Wienern wird ja nachgesagt, dass sie zuweilen raunzen und nörgeln. Wem fällt da jetzt nicht das Wort ausstallieren ein? Das Verb hat aber nichts mit Stall zu tun, sondern scheint volksetymologisch umgedeutet worden zu sein. Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich das Simplex stallieren mit der Bemerkung, dass das Wort in süddeutschen und schwäbischen Mundarten vorkommt und bedeutet: "seinen Unwillen laut zu erkennen geben, üble Nachrede begehen". Da aber Nebenformen, wie etwa skal(l)ieren und schallieren, vorkommen, wird eine Herleitung aus italienisch scagliare (contro qualcuno) "gegen jemanden losziehen" vermutet.4

Der Exkurs ist zu Ende. Wir kehren zur Stille zurück.

Während sich in den idiomatischen Verbindungen (siehe weiter unten) die ursprüngliche Bedeutung erhalten hat, entstand in still und Stille sehr früh die Verschiebung von Bewegungslosigkeit zu Silentium, ein Wechsel von der kinästhetischen zur akustischen Sphäre, denn wenn es keine Bewegung gibt, haben wir meist auch keine Höreindrücke.

Stillsitzen und stillhalten, das mag schmerzliche Kindheitserinnerungen wachrufen. Wenn Kinder ihrem Bewegungsdrang nicht freien Lauf lassen können, wenn sie sich körperlich nicht erproben und keinen Mucks von sich geben dürfen, dann mag das zwar für Eltern bequem sein, aber dieses Stillhalten hat seinen Preis, der oftmals später im Leben bezahlt wird, ist doch diese Stille das Gegenteil von Lebendigkeit.

Die ursprüngliche Bedeutung ist auch noch in "Stillleben" erhalten. Der Begriff kommt aus dem Niederländischen, wo er Mitte des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal erwähnt wird (stil leven; stil "unbewegt" + leven "Leben").

In der bildenden Kunst sprechen wir von einem Stillleben (neuenglisch still life, italienisch natura morta, französisch nature morte), wenn in einem Gemälde leblose Gegenstände, wie zum Beispiel Blumen, Früchte, Haushaltsgeräte, tote Tiere et cetera ästhetisch arrangiert sind.

Apropos bildende Kunst: Von 7. bis 28. März 2016 gab es im Museum Essl, das mit 1. Juli 2016 seinen Betrieb eingestellt hat, das Projekt "Silence"5, das Besucherinnen und Besucher einlud, allein beziehungsweise maximal zu zweit in einen Raum der stillen Begegnung mit Kunst einzutreten. Die Bedeutung "reglos" finden wir auch noch in der Wendung "a stillborn child", die ein euphemistischer Ausdruck für "Totgeburt" ist.

Mit der ewigen Stille, dem Tabuthema "Tod", setzt sich Katharina Schmidts Buch "Eine sonderbare Stille" (Brandstetter Verlag 2016) auseinander, ist doch der Tod im physischen Sinne der Beginn einer immerwährenden Reglosigkeit. Starre.

Interessant ist die Entwicklung des neuenglischen Adjektivs still von "bewegungslos" zum Adverb "noch": The baby is still crying. There are still two bananas left. (Das Baby weint noch immer. Zwei Bananen sind noch übrig.) Wenn wir den Bedeutungsaspekt "ohne Bewegung = stehend = beständig" ausdehnen auf eine Handlung, die – oder einen Zustand, der in der Vergangenheit begonnen hat und unveränderlich bis in die Gegenwart andauert, dann ergibt sich die heutige Bedeutung von "noch".

Das neuhochdeutsche Verb stillen (mittelhochdeutsch stillen, altenglisch stillan "zum Schweigen bringen, besänftigen", neuenglisch to still "befriedigen, beruhigen") entwickelt mehrere Bedeutungsnuancen, von "eine innere oder äußere Bewegung zum Stillstand bringen" (zum Beispiel Blut, Tränen, Schmerz, eine Sehnsucht stillen) und "ein Bedürfnis befriedigen" (zum Beispiel Hunger und [Wissens-]Durst stillen) zu "ein Baby stillen" (neuenglisch "to nurse or breastfeed").

Zum Schluss suchen wir noch das stille Örtchen auf, einen Rückzugsort, den manche Menschen auch zum Lesen benutzen. Der Brenner-Krimi "Silentium" von Wolf Haas böte sich an, schon allein des Titels wegen. Musikalisch können Sie wählen zwischen "The Sound of Silence" von Simon and Garfunkel und "It’s Oh So Quiet, Shhh, Shhh …" von Björk. (Sonja Winkler, 11.10.2016)