Regisseurin Sabine Mitterecker erschließt Elfriede Jelineks Stück "Schatten (Eurydike sagt)" über musikalische Strukturen und präsentiert es in der ehemaligen Sargerzeugung F23 in Wien Atzgersdorf.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Jelinek empfiehlt der Regie gern "Machen Sie, was Sie wollen". Was sagte sie Ihnen, hatten Sie Kontakt?

Mitterecker: Wir stehen schon länger in Kontakt. Im Fall von Schatten (Eurydike sagt) begann er unmittelbar nach der Uraufführung im Akademietheater 2013 (Regie Matthias Hartmann, Anm.). Ich sagte ihr, das möchte ich nicht unkommentiert lassen.

STANDARD: Weil?

Mitterecker: Es war ein machoider Blick. Das stärkste Bild der Inszenierung war der Popstar auf der Showtreppe. Das kann doch nicht die Perspektive dieses Textes sein.

STANDARD: Katie Mitchell hat in ihrer aktuellen Schaubühnen-Inszenierung Orpheus ebenfalls eingebaut. Sie entscheiden sich bewusst gegen ihn. Warum?

Mitterecker: In der Leerstelle entsteht die Spannung. Für mich bringt die Abwesenheit des Orpheus mehr hinein, es wird intensiver. Das meint auch der für mich sehr wichtige Satz: "Die Toten werden ja für die Daheimgebliebenen immer reizvoller, als sie je waren" – das gilt auch vice versa.

STANDARD: Wie beginnt man als Regisseurin einen Jelinek-Text zu erschließen, zu strukturieren?

Mitterecker: Ich ließ den Text lange unberührt – und irgendwann wusste ich, dass ich diese drei Schauspielerinnen brauche und dass ich – neben Alexandra Sommerfeld und Sarah Sanders – mit Christina Scherrer, die auch Musikerin ist, eine Art weibliche Gegen-Orpheus-Stimme installieren will. Der Chor der kreischenden Mädchen, die Orpheus-Groupies, das sind für mich die Mänaden. Diese Mänaden-Textbausteine habe ich als Chorstelle immer wieder eingebaut. Die Freiheit, die einem ein Jelinek-Text lässt, ist auch gefährlich, weil man in allen Bandbreiten den Text mit Bedeutung unterlegen kann.

STANDARD: Warum wählten Sie nicht das aktuellere Stück "Wut"?

Mitterecker: Ich habe auch kurz gedacht, wie wäre es, wenn jemand eine Rede von Asli Erdogan reinspricht. Aber dann gesehen, das braucht es nicht. Es ist alles enthalten. Der Text handelt ja genau von Ausgrenzung und Beherrschung, vom Verstummen. Schatten ist eine Etüde, eine Einübung in den herrschaftsfreien Raum. Es ist todernst und saukomisch zugleich, das ist die Qualität.

STANDARD: Jelineks schelmisches Verfahren ist der Grundton, dem Sie folgen möchten?

Mitterecker: Unbedingt. Wenn uns das gelingt, bin ich der glücklichste Mensch. Nur nicht in die Pathosschlinge geraten! Deshalb werde ich während der Vorstellung im Raum bleiben, wie eine Dirigentin beim Orchester.

STANDARD: Haltegriffe in diesem Text zu finden ist notwendig. Wie stark ist Musik ein Anker?

Mitterecker: Das Musikkonzept von Wolfgang Musil ist essenziell. Ähnlich wie schon beim Thomas-Bernhard-Abend Frost im Mumok. Ohne diese Erfahrung könnte ich Schatten nicht machen.

STANDARD: Sind Sie sehr vorsichtig im Umgang mit dem Text?

Mitterecker: Nein, der Text ist nicht dazu da, in jeder Silbe gehört zu werden, auch wenn ich ihn als Partitur betrachte. Ich habe drei Schauspielerinnen wie Instrumente in einem Orchester vor mir. Es sind Einzelstimmen, die ich immer wieder in Tutti führe. Ich rede absichtlich in musikalischen Termini. Ich versuche auf diese Weise mit Identitätsentwürfen zu spielen. Man muss diesen Text unbedingt laut lesen, dann fängt es sich zu bewegen an.

STANDARD: Ihre Arbeiten entstehen oft im direkten Dialog mit den Spielorten. Was hat Sie an der leerstehenden Fabrik F23 gelockt?

Mitterecker: Es ist einerseits die Größe. Der Hades braucht Luft. Zudem verträgt der Text aus meiner Sicht keine Guckkastenbühne. Spielerinnen und Publikum gehören sozusagen in ein Fußballfeld. Außerdem wollte ich dringend raus aus der innerstädtischen Atemnot, also bewusst an die Peripherie. Auch fand ich den Standort einer ehemaligen Sargfabrik als Ort der Unterwelt irgendwie passend. Ich hoffe auch sehr, dass dort viele Menschen Jelinek und ihren Witz entdecken, einen Neuzugang finden zu einer Schriftstellerin, die recht einseitig wahrgenommen wird. Der Abend muss "pfeifen", also es geht nicht darum, Jelinek in ihrer Vollständigkeit herunterzubeten.

STANDARD: Ist es sinnvoll, der Übersetzung des Mythos in heutige Popsängerwelten zu folgen?

Mitterecker: Die konkreten Infos über einen Popsänger und seine Schriftstellergattin, sie bilden den Haken, an dem man das heranzieht, aber dann muss man weg aus einer personenbezogenen Identifizierung. Ich betrachte Schatten als griechisches Drama mit Exposition, Spielansage, Botenbericht usw. Es entspinnen sich die Stimmen: Hauptstimme, erstes Motiv, später ein zweites Motiv. Man müsste den Text eigentlich musikalisch notieren. Es ist ein musikalisches Verknappungsverfahren. (Margarete Affenzeller, 11.10.2016)