Trotz Kommerzialisierung und Pornografisierung haben Paare auch heute noch den Wunsch nach langfristigen Beziehungen.

Foto: wikipedia/Sandra White/[cc;2.0;by]

"Es ist mir ein Anliegen, das Thema Sexualität transparenter zu machen. Denn auch wenn wir eine unglaubliche sexuelle Trivialisierung erleben, ist doch noch immer sehr viel tabuisiert und im Schatten", sagte Gerti Senger, klinische Psychologin und Paartherapeutin, kürzlich bei einer Podiumsdiskussion in Wien. Die Inflation des Sexuellen im Alltag schwäche die individuelle Sexualität.

Das Problem der Gegenwart sei nicht, sexuelle Wünsche zu erfüllen, sondern sie überhaupt zu haben, zitierte Senger bei einem vom Wissenschaftsministerium veranstalteten "Science Talk" den Philosophen Günther Anders. Durch die Überflutung an sexuellen Reizen, Themen und Bildern entstehe oft der Wunsch nach einem "Red-Bull-Flash" oder "Design-Sex", nach etwas Besonderem, Ausgefallenem oder Bizarrem.

Aus diesem Mix ergebe sich ein ganzer Fächer an Problemen in allen Altersgruppen. "Bei den Jungen bemerke ich eine unglaubliche sexuelle Müdigkeit und Gleichgültigkeit", so Senger, die das in Kontrast zu einer "heißen sexuellen Grundstimmung" in ihrer eigenen Jugend stellte: "Es ist eine kalte sexuelle Welt, in der wir jetzt leben." Die ältere Generation wiederum verfalle zum Teil der "Porno-Panik". Wenn der Großvater die Welt der Online-Pornos entdeckt, soll die Frau plötzlich "Sachen machen, die sie 40 Jahre lang nicht gemacht hat", erzählte Senger aus ihrer therapeutischen Praxis. "Diese Freiheiten, die heute möglich sind, haben meiner Meinung nach ganz neue Zwänge gebracht."

"Alles mit jedem tun können"

Die neue sexuelle Freizügigkeit habe trotz "Pornografisierung" und omnipräsenter sexualisierter Werbung aber auch ihre positiven Seiten. "Noch nie hatte eine Generation vor uns das Glück, alles mit jedem tun zu können", warf die Ärztin und Psychotherapeutin Elia Bragagna ein. Die Sexualität und die sexuelle Gesundheit sollten vom Kindergarten über Schule und Universität einen ebenso wichtigen wie unaufgeregten Stellenwert haben, um gestärkte Individuen zu bekommen.

Art und Dauer von Beziehungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. "Wir leben in einer Zeit der sequenziellen Monogamie", fasste Franz X. Eder vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien den Trend zu mehreren, aber kürzeren Beziehungen pro Lebenszeit zusammen. Die Kommerzialisierung und Pornografisierung habe, gepaart mit einer gestiegenen Selbstreflexion und Selbstoptimierung, "unseren Wunschhorizont massiv verändert".

Beziehungen zum Scheitern verurteilt

Eine nie da gewesene Flut an Ratgeberliteratur zeige vor allem den Wunsch nach Orientierung. "Die Sozialisation von Jugendlichen ist heute schon mit einem hohen Beziehungsimperativ versehen", so der Professor mit dem Forschungsschwerpunkt Sexualitätsgeschichte. 15- bis 20-Jährige, die eine Beziehung eingehen, seien schon mit einer Fülle an Ratgebern, Informationen aus dem Internet und gleichzeitig mit Pornografie konfrontiert. In Kombination mit einem hohen Anspruch an Selbstverwirklichung seien deshalb viele junge Beziehungen "bereits in der Wurzel zum Scheitern verurteilt".

"Sexuelle Kommunikation lernt man nirgends", erklärte Senger, was auch den Umgang mit "vielen angstbesetzten Fragen" schwierig mache. Deshalb werde in Beziehungen oft lieber geschwiegen aus Furcht, ein falsches Wort zu sagen und den anderen zu verletzen. "Es ist deshalb notwendig, Worte zu finden und keine Angst zu haben", riet die Psychologin. Denn letztlich sei der Wunsch nach langfristigen, stabilen Beziehungen nach wie vor prägend für unsere Gesellschaft und tief kulturell verankert. (APA, 11.10.2016)