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Ein neues Buch fasst Untersuchungen in deutschen Schlachthöfen und Geflügelfarmen zusammen. Das Ergebnis ist alarmierend: Viele Nutztiere sind krank.

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Veterinärmediziner und Foodwatch-Mitgründer Matthias Wolfschmidt leitet daraus einen Auftrag an die Politik ab: "Wir schulden den Tieren gemäß unseren Tierschutzgesetzen eine bessere Pflege."

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STANDARD: Sie fordern in Ihrem Buch "Das Schweinesystem" bessere Lebensbedingungen für Nutztiere. Wie krank sind unsere Nutztiere?

Wolfschmidt: Die im Buch ausgewerteten Studien stammen vor allem aus Deutschland. Aber die Situation in Österreich ist ähnlich. Bei Kühen, Schweinen und Geflügel gibt es in allen Haltungsformen teilweise enorme Probleme. Dabei ist es egal, ob es sich um konventionelle, ökologische, kleine oder große Betriebe handelt.

STANDARD: Ist denn eine Biokennzeichnung keine Garantie für Produkte von gesünderen Tieren?

Wolfschmidt: Leider nein. Bio hat zwar den Vorteil, dass die Tiere mehr Platz haben und ihr arteigenes Verhalten eher ausüben können. Doch Tiergesundheit spielt bei der europäischen Ökolandbauverordnung keine Rolle. Der Gesetzgeber hat die Gesundheit von Nutztieren bislang nicht als Ziel definiert.

STANDARD: Als Hauptgrund für Erkrankungen nennen sie die Höchstleistungen, die die Tiere bringen. Im Buch sprechen Sie etwa von der "Marathonkuh". Was ist damit gemeint?

Wolfschmidt: Milchkühe leiden regelmäßig an Euterentzündungen, Stoffwechselstörungen und Klauenverletzungen. Es gibt eine Studie, die in Brandenburg durchgeführt wurde. Demnach sind nur zehn Prozent aller Milchkühe über die Dauer eines Jahres gesund. Sie sind auf enorm hohe Milchleistungen hin gezüchtet, erzeugen rund 7.500 Liter Milch pro Jahr. Dafür muss das Kuhherz jeden Tag mehr als 100.000 Liter Blut durch den Körper pumpen. Das ist der Kuhmarathon.

STANDARD: Wie äußern sich solche Hochleistungen körperlich nach ein paar Jahren?

Wolfschmidt: Damit die Kuh Milch gibt, muss sie regelmäßig kalben. Aber wegen der Strapazen werden die Kühe nicht ohne Weiteres trächtig. Viele bleiben trotz Hormonbehandlung unfruchtbar. Das Bittere ist, dass sich die Kuh eigentlich erst nach drei Kälbern für den Landwirt wirtschaftlich rentiert, dann aber oft schon zum Schlachter kommt.

STANDARD: Wie sieht die Situation bei den Schweinen aus?

Wolfschmidt: Es gibt Schweinemäster, bei deren Tieren zu 50 bis 60 Prozent Lungenerkrankungen festgestellt wurden. Die Schweine stehen auf Betonspaltenböden über ihren eigenen Exkrementen und atmen scharfe Ammoniakdämpfe ein. Auch Leberdegenerationen, Parasiten und Klauenveränderungen durch die harten Betonböden werden oft gefunden.

STANDARD: Was bedeutet das für Konsumenten?

Wolfschmidt: Die amtliche Fleischbeschau am Schlachthof stellt sicher, dass das Muskelfleisch genusstauglich ist. Bei Kühen mit Euterentzündung werden die Euter mit Antibiotika behandelt. Aber es sind Wartezeiten nach Behandlungen vorgeschrieben. Eine Molkerei, die Hartkäse macht, hat zum Beispiel kein Interesse daran, dass noch Antibiotika in der Milch sind. Sonst nehmen die Bakterienkulturen Schaden. Trinkmilch verarbeitende Molkereien sehen das nicht ganz so streng, aber das ist gesetzlich relativ gut geregelt. Es geht mir im Buch nicht primär um Lebensmittelsicherheit. Sondern um ein System, in dem es ein hohes Maß an Tierkrankheiten gibt, die der niedrigen Produktionskosten wegen geduldet werden.

STANDARD: Sie heben hervor, dass auch Landwirte Opfer dieser ökonomischen Logik sind.

Wolfschmidt: Die Landwirte sind das vorletzte Glied. Sie zahlen drauf, wenn sie für eine bessere Tiergesundheit sorgen wollen, denn der nötige Mehraufwand bringt kein Geld. Die Preise diktieren in Deutschland fünf große Handelskonzerne, die 85 Prozent der Nachfragemacht haben. Das letzte Glied sind die Tiere, die für die niedrigen Preise mit Krankheiten und Schmerzen bezahlen, die eigentlich vermeidbar wären.

STANDARD: Wie kann man die Standards anheben?

Wolfschmidt: Es bedarf keiner grandiosen Forschungsanstrengungen mehr. Wir wissen, welche Bedürfnisse Nutztiere haben. Wir brauchen den politischen und gesellschaftlichen Willen, dass wir so nicht weitermachen. Wir brauchen bessere gesetzliche Standards – und müssen mehr für tierische Lebensmittel bezahlen.

STANDARD: Nicht jeder kann oder will sich höhere Kosten leisten. Was entgegnen Sie den Kritikern?

Wolfschmidt: Wir schulden den Tieren gemäß unseren Tierschutzgesetzen eine bessere Pflege. Ein Beirat beim Bundeslandwirtschaftsminister hat geschätzt, dass es drei bis sechs Prozent teurer wird. Das halte ich für optimistisch. Klar ist, dass man jenen Menschen, die sehr wenig Geld haben, finanziell helfen muss.

STANDARD: Essen Sie selbst noch tierische Produkte?

Wolfschmidt: Ja. Wir sind aber als Konsumenten heute nicht in der Lage, zuverlässig eine Kaufentscheidung zu treffen, bei der sicher ist, dass das Tier ohne Krankheiten und Verhaltensstörungen gelebt hat. (Julia Schilly, 13.10.2016)