Alain Guiraudie: zu wenig, wenn das Kino nur nachahmt.

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Ein Drehbuchautor, der auf seiner Reise auch in unwirkliche Zonen gelangt: Damien Bonnard in Alain Guiraudies "Rester vertical".

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Vor drei Jahren hat der Franzose Alain Guiraudie mit Der Fremde am See (L'inconnu du lac), in dem eine Cruisingzone für Schwule zum Schauplatz eines Verbrechens wird, einen der ungewöhnlichsten Filme des Jahres gedreht. Nun kehrt er mit dem nicht weniger erstaunlichen Rester vertical zur Viennale zurück. Der Film begleitet den Drehbuchautor Léo (Damien Bonnard) auf Motivsuche in die südfranzösische Lozère, wo er einer Schäferin (India Hair) verfällt und mit dieser ein Kind zeugt, dann aber von ihr verlassen wird.

Von da an wird der Film, der die reale Szenerie punktuell ins Traumähnliche überhöht, immer unberechenbarer. Die Figuren folgen ungewöhnlichen Begierden und sind immer für Überraschungen gut. Guiraudie vermag traditionelle Formen sozialen Miteinanders mit großer Selbstverständlichkeit zu erweitern. Das Leben mutiert zum Abenteuer, der ländliche Raum zu einem der unbegrenzten Möglichkeiten.

STANDARD: Léo, Ihr Held, bricht zu einer Recherche auf, bei der sein Leben neu geordnet wird. Er entdeckt etwa seine Freude daran, alleinerziehender Vater zu sein. Hatten Sie so etwas wie die Ausweitung von Lebensmodellen im Sinn?

Guiraudie: Der Film baut auf Debatten auf, die nicht nur in Frankreich kontrovers diskutiert werden. Da ist etwa die Frage moderner Elternschaft, wie Sie sagen, oder jene der Schwulenehe, dann die Idee von Leihmutterschaft und Sterbehilfe – ich wollte all diese sozialen Themen aus einer anderen Perspektive behandeln. Wir alle kennen Mütter, die ihre Kinder allein aufziehen, ich wollte dies durch eine männliche Position erweitern. Léo erzieht sein Kind ja nicht nur, er liebt diese Form der Fürsorge sogar.

STANDARD: Er möchte als Vater sogar bald lieber ungebunden sein. Sie zeigen, dass es dafür noch wenig Akzeptanz gibt.

Guiraudie: Mir ging es vor allem um diese Verwirrung, die durch neue, ungewohnte Lebensstile entsteht. Auf der einen Seite ist man frei, auf der anderen aber schnell sehr verletzlich. An einer Stelle scheint mein Held dann sogar der Armut zum Opfer zu fallen. Léo ist wie ein Mann in der Menge. Im Film ist er eigentlich durchgehend allein, auch wenn er von anderen Menschen umringt ist.

STANDARD: Dafür gibt es viele, oft auch überraschende Formen von Sex zwischen den Figuren. Ein Wort dazu?

Guiraudie: Damit habe ich schon in Der Fremde am Fluss gespielt, in dem ja scheinbar jeder mit jedem schläft. In Rester vertical habe ich versucht, mich mehr zu kontrollieren, der Film sollte näher an die Realität heranreichen. Léo verweigert sich ja manchen Avancen oder wird zurückgewiesen. Mir gefällt allerdings die Idee, Filme zu machen, in denen alle möglichen Permutationen sichtbar sind: "Ich will dich, aber du willst mich nicht. Ich will dich nicht, aber du willst mich etc."

STANDARD: Sie zeigen die Großaufnahme einer Vagina, ein Bild wie Courbets "Ursprung der Welt", später dann den Vorgang der Geburt des Kindes selbst – ganz dokumentarisch. Warum diese Deutlichkeit?

Guiraudie: Ich habe keine Angst, jemanden zu verschrecken, ich mag die beiden Szenen sogar sehr. Es fasziniert mich, wie es mir zur selben Zeit Angst macht. Überhaupt ist dies ein Film, in dem ich auf Dinge blicke, die mir eigentlich Angst einflößen. Mir ist auch klar, dass es immer noch ein Tabu ist, solche Bilder zu zeigen. Es ist wichtig, dass wir auf Tabus blicken. Das ist doch, worum es bei Babys geht: Sie sind das Andere an sich, kleine Monster, die aus uns herauskommen und zugleich von ganz woandersher. Ein Baby ist zugleich monströs wie wunderschön. Ich versuche, das Schöne im Obszönen zu entdecken.

STANDARD: Ist die Szene, in der Léo einem Mann auf sehr ungewöhnliche Weise Sterbehilfe gewährt, auch ein Beispiel dafür?

Guiraudie: Beides sind symbolträchtige Szenen, bei der Geburt des Babys und dem Tod von Marcel ist es am offensichtlichsten. Aber auch beim Bauern Jean-Louis kann man dieses Prinzip finden, etwa als er das Baby als Köder benützt ... Mir ist es zu wenig, wenn das Kino nur das Leben nachahmt.

STANDARD: Ist es deshalb nur ein kleiner Schritt zum Traum – wie in jenen Szenen, in denen Léo in den Wäldern diese seltsame Heilkur durch eine Frau erfährt?

Guiraudie: Ich suche immer auch ideale Welten, die noch nicht existieren. Hier erscheint eine davon in Form einer Frau, die eine alternative Form von Medizin praktiziert. Ich wünschte, es gäbe solche Ärzte auch im richtigen Leben! Ich liebe die Idee des Kinos als Traum – wenn es größer als das Leben wird.

STANDARD: Zugleich gibt es diesen Bezug zur Volkskultur und den Wölfen, die in der karg bevölkerten Lozère ja gefürchtet werden.

Guiraudie: Der Wolf ist emblematisch für den Film, er stellt in Frankreich ein großes Problem dar. Die Schäden bei Schafzüchtern sind immens. Wölfe bringen aber auch eine Mythologie mit sich, sie sind ein Symbol für Urängste. Ich bin in meinen Filmen stets der Populärkultur und mythologischen Verschränkungen zugetan – und ich versuche selbst Mythen zu generieren, die sich mit dem realen Leben kreuzen.

STANDARD: Wie verhält es sich mit der Mischung aus Groteskem und Ironie? Ihre Filme sind ja wahrlich nicht humorfrei.

Guiraudie: Mir gefällt diese Mischung aus dem Dramatischen und dem Komischen, dem Schweren und dem Leichten. In den früheren Fassungen war der Film noch viel komischer konzipiert. Ich habe mich dann aber beim Schnitt dazu entschieden, die Balance zu ändern und die düsteren Seiten zu verstärken. Es geht immer um die Gewichtung. Ich habe die Szenen diesmal bewusst so gedreht, dass ich beim Schnitt mehrere Möglichkeiten haben würde. Ich habe zwei verschiedene Formen der Découpage des Films, eine davon war aufgeschrieben, eine andere hatte ich im Kopf – ich habe beide Versionen gedreht. (Dominik Kamalzadeh, 13.10.2016)