In Erklärungsnot: der Leiter der JVA Leipzig, Rolf Jacob (im Fokus), und Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU, im Hintergrund rechts) bei der Pressekonferenz.

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Der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) war sichtlich not amused. "Das, was da gestern Nacht passiert ist, verlangt nun wirklich nach schneller und umfassender Aufklärung der örtlichen Justizbehörden", sagte er am Donnerstag und kritisierte: "Die Ermittlungen jedenfalls sind dadurch erschwert worden. Das ist natürlich auch ein Rückschlag für die Aufklärung gegebenenfalls weiterer Tatbeteiligter, Hintermänner, Netzwerke und Ähnlichem." SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sprach von einer "beispiellosen Aneinanderreihung von Polizei- und Justizversagen" und zeigte sich "fassungslos".

Am späten Abend zuvor hatte das sächsische Justizministerium bekanntgegeben, dass sich Jaber al-Bakr in seiner Zelle in Leipzig mit einem T-Shirt an einem Zwischengitter (zur Trennung zwischen Häftling und Personal) erhängt hatte. Der 22-jährige Flüchtling aus Syrien war in der Nacht auf Montag festgenommen worden; er stand im Verdacht, einen Terroranschlag auf Züge und Berliner Flughäfen geplant zu haben.

Am Montag war al-Bakr nach seiner Festnahme dem Haftrichter vorgeführt worden. Diesem erklärte er, dass er nun keine Nahrung mehr zu sich nehmen werde. Der Haftrichter wies daraufhin auf Suizidgefahr hin, im Gefängnis wurde entschieden, den Mann in eine Einzelzelle zu geben und in 15-minütigen Abständen zu kontrollieren.

Personal sieht Vandalismus

Am Dienstag führte eine Psychologin ein Gespräch mit dem Häftling. Er habe sich dabei "ruhig" verhalten, erklärte Rolf Jacob, Leiter der Justizvollzugsanstalt Leipzig (JVA). Die Intervalle zwischen den Kontrollen seien daraufhin auf 30 Minuten ausgedehnt worden. Dass al-Bakr später die Deckenlampe herunterriss und versuchte, an ein Stromkabel zu gelangen, ließ bei niemandem die Alarmglocken schrillen. "Man hat das mehr als Vandalismus ausgelegt, als er – warum auch immer – so gehandelt hat", erklärte Jacob am Donnerstag auf einer Pressekonferenz.

Ein Gespräch mit dem Häftling konnte mangels Dolmetscher nicht stattfinden. Am Mittwochabend fand dann eine Auszubildende den Erhängten, Reanimationsversuche blieben erfolglos. Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) sagt über den Suizid: "Das hätte nicht passieren dürfen, es ist aber leider geschehen. Obwohl wir nach dem jetzigen Stand alles Mögliche getan haben, das zu verhindern. Die Prognosen haben sich nicht bestätigt, sodass es zu diesem Ereignis gekommen ist."

"Eine Reihe von Fehleinschätzungen"

Er übernehme die politische Verantwortung, erklärte Gemkow. Auf die Frage, ob er zurücktreten werde, antwortete er: "Dafür gibt es keine Veranlassung im Moment." Dem widerspricht der Vize-Ministerpräsident von Sachsen, Martin Dulig (SPD): "Es ist offensichtlich zu einer Reihe von Fehleinschätzungen sowohl über die Bedeutung als auch den Zustand des Gefangenen gekommen." Auch der Pflichtverteidiger des Terrorverdächtigen, Alexander Hübner, sagte: "Ich bin wahnsinnig schockiert und absolut fassungslos, dass so etwas passieren kann." Den Verantwortlichen der Justizvollzugsanstalt sei das Suizidrisiko des Beschuldigten bekannt gewesen und auch im Protokoll vermerkt worden.

Frustriert äußerte sich Sachsens Generalstaatsanwalt Klaus Fleischmann. Er erklärte: "Es wäre ein sehr schöner Ermittlungsansatz gewesen, wenn al-Bakr – ich sag es mal unschön – im Ermittlungsverfahren ausgepackt hätte." Geändert wurde nun die Überwachung des zweiten Verhafteten. Der 33-Jährige sitzt in der JVA Dresden, vor seiner Zelle wurde nun eine "Sitzwache" angeordnet, die kontrolliert, was in der Zelle vor sich geht. Videoüberwachung – wie im Fall des des mutmaßlichen Paris-Attentäters Salah Abdeslam – ist in Sachsen verboten. (Birgit Baumann aus Berlin, 13.10.2016)