Die Gruppe El Conde de Torrefiel adaptierte mit einem Ensemble aus der Steiermark ihr Stück "Guerrilla" für den Steirischen Herbst neu. Es befragt die Komfortzone Europa.

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"Empire", der dritte Teil der Europa-Trilogie von Milo Rau.

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Schauspieler Andreas Kiendl (l.) erklärt die steirisch-slowenische Grenze in den Weinbergen, während sich Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger an eine Grenztafel klammert.

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Graz/Leutschach – Anfang 2019 unterzeichnen Russland und China einen Nichtangriffspakt. In vier Jahren wird ein globaler Krieg ausbrechen. Üble Aussichten, davor eine Rückblende: 14. Oktober 2016, Steirischer Herbst, im Grazer Orpheum. Das junge spanische Künstlerkollektiv El Conde de Torrefiel zeigt erstmals in Österreich eines seiner international hoch gehandelten Stücke: Guerrilla. Und öffnet dabei ein Fenster in die nähere Zukunft oder, genauer gesagt, auf das wenig optimistische Lebensgefühl der Gegenwart.

Dafür holen die Köpfe hinter der Gruppe, Tanya Beyeler und Pablo Gisbert, markante Zeichen auf die Bühne und projizieren Worte darüber, die unter die Haut gehen. Auch im Jahr 2019 scheint es noch um den ganz normalen Lebenswandel junger Bobos zu gehen. Erste Szene: Etwa dreißig dieser sympathischen Leute lauschen einem Vortrag von Romeo Castellucci. Zweite Szene: Sieben Frauen aus diesem Sample nehmen an einem Tai-Chi-Kurs teil. Dritte Szene: Die Youngsters raven sich in einem Club weg.

Es zeigt sich, dass das normale Bobo-Leben ein Tanz auf dem Vulkan ist. In ihren durch das gesamte Stück fortlaufenden Texteinblendungen führen Beyeler und Gisbert das Erodieren und schließlich Implodieren der Globalisierung vor. Schlaglichthaft werden einzelne Figuren beleuchtet, Ort der Handlung ist Graz. Von hier kommen auch die Darsteller. Sie müssen nur sitzen, Tai-Chi praktizieren und tanzen, während die Worte über ihren Köpfen den Einsturz der Welt vorzeichnen, wie wir sie kennen.

Erst verschärfen sich Wirtschaftskrise, Rechtsruck und Terror. Eine Fluchtkolonie auf dem Mond wird entdeckt. Kleine, bedrückende Geschichten aus der Gegenwart und aus dem Zweiten Weltkrieg schieben sich vor das Menetekel. Es geht auch um Intellektuelle, die ein Proletariat hochjubeln, zu dem sie keinerlei Kontakt haben. Es herrscht Übersättigung, verbunden mit manischer Aktivität und "einer extremen Passivität gegenüber der Welt". Langsam wird es laut auf der Bühne. Der Techno wummert.

Dann ist es so weit. 2023 verbünden sich China und Russland gegen Europa und die USA. Es kracht. Und ja, es gibt ein Danach – in neuer Machtverteilung. Techno ist die Musik der Gegenwarten von 2016 und 2019 sowie dieses künftigen Krieges. Eine guerillahaft zornig wirkende Ambivalenz zieht sich durch dieses brillant gebaute, am Ende ohrenbetäubende Stück. Bis auf wenige Kratzer im Text eine definitiv überragende choreografische Performance.

Last des Authentischen

Nicht einen Blick in die explosiv hochgerechnete Zukunft der Globalisierung, sondern auf den gewachsenen Ist-Zustand des europäischen Kontinents wirft Milo Rau in Empire. Der mit Arbeiten zum Völkermord in Ruanda, zu Pussy Riot und Anders Breivik zu einem Star des Dokumentartheaters gewordene Schweizer Regisseur hat in diesem dritten Teil seiner Europa-Trilogie (2014-2016) vier Schauspieler zur Hand, die wie in den vorangegangenen Serienparts ihre persönliche Biografie in den Dienst der Sache stellen: Ihre kapitelweise angeordneten, ineinandergeschnittenen Erzählungen zeichnen die Spuren von politisch verfolgten Familien zwischen Bukarest und Damaskus, Wladiwostok und Thessaloniki nach. Ramo Ali beispielsweise, er hat mit der Geburt seiner Tochter der Familie nun das 60. Enkelkind geschenkt, ist syrischer Kurde und lebt nach Verfolgung und Folter in Deutschland.

Die vier (zwei Syrer, ein Grieche, eine Rumänin) sind wohlweislich alle Schauspieler von Beruf, eine notwendige Setzung, um der Authentizität im Stück ihre Wucht zu nehmen. Dennoch überbieten die ergreifenden, zum Teil schockierenden Berichte jede theatrale Formgebung. Es sind vier starke, vor allem markant beglaubigte Biografien, die gewisse Parallelen haben, aber letztlich auch disparat bleiben und nur disparat auf ein "Empire" hin gedeutet werden können.

Feldarbeit ohne Grenzen

Eine wiederum andere Form dokumentarischen Theaters gab es an der steirisch-slowenischen Grenze. Dort brach am Samstag zum letzten Mal das deutsche Duo Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura mit dem Schauspieler Andreas Kiendl zur performativen Wanderung Willkommen in der Europaschutzzone auf. Die Weinberge verschwanden im Nebel. Das schien stimmig für die grüne Grenze, die unsichtbar im Zickzack verläuft, weil sich die Bauern einst einzeln für eine Seite entscheiden konnten. Grenzsteine stehen verteilt, als habe sie ein Betrunkener aufgestellt.

Kroesinger erzählt auf einer Bank in Österreich – die Füße in Slowenien –, wie Bauern einst Passierscheine brauchten, um Felder zu bestellen. Grenzen waren nur in den Köpfen: etwa in jenem des von den Nazis verehrten Dichters Ottokar Kernstock, in dessen Stüberl in Leutschach die Wanderung startete. Am Ende sieht man in einem Kuhstall "historisches Filmmaterial" von 2015, als tausende Flüchtlinge in Spielfeld ankamen und die Grenze wieder in manchen Köpfen Thema wurde. (Helmut Ploebst, Margarete Affenzeller, Colette M. Schmidt, 16.10.2016)