Nur zehn Prozent der Manager in den Vorstandsetagen von Konzernen kommen aus dem Ausland. Und nur ein Bruchteil der Superreichen lebt im Ausland. Der deutsche Soziologe Michael Hartmann, der für sein neues Buch die Biografien der Vorstandschefs der 1.000 größten Unternehmen und der 1.000 reichsten Menschen der Welt analysiert hat, schließt daraus, dass Nationalstaaten auch in einer globalisierten Welt mehr Souveränität haben als gemeinhin unterstellt.
Die Angst vor dem flüchtenden Kapital sei unbegründet, man müsse nur eine entsprechende Steuerpolitik nach Vorbild der USA betreiben. Unternehmenslenker und Reiche hätten nur so viel Macht, wie die Gesellschaft ihnen zugesteht. Mehr Frauen und soziale Aufsteiger kämen nicht durch einen freiwillige Wandel von Unternehmenskultur in Toppositionen, sondern nur durch Quotenregelungen.
STANDARD: In Ihrem Buch entzaubern Sie den Mythos einer internationalen Elite von Superreichen und Konzernlenkern, die den Lauf der Welt bestimmen. Worauf begründen Sie das?
Hartmann: Ich habe die Bildungs- und Karrierewege von Spitzenmanagern der 1.000 größten Unternehmen der Welt und der 1.000 reichsten Personen der Welt analysiert. Die Ergebnisse sind eindeutig: Der Ausländeranteil bei Vorstandschefs beträgt zehn Prozent, bei Aufsichtsratsvorsitzenden noch weniger. Und von über 1.000 Milliardären wohnen gerade einmal 90 im Ausland. Es ist zum Beispiel falsch, dass russische Milliardäre alle außerhalb Russlands wohnen, in teuren Immobilien in London und der Schweiz. Von den 45 reichsten Russen wohnen zwei dauerhaft im Ausland. Gerade dort gilt: Man muss in Moskau sein und Kontakt zur politischen Führung halten, weil man sonst sein Unternehmen nicht zusammenhalten kann.
STANDARD: Trotzdem ist die Annahme weiter verbreitet denn je, dass eine globale Wirtschaftselite im Hintergrund alle Fäden zieht.
Hartmann: Ja, und es ist Unsinn. Mein Buch ist eine klare Absage an die Vorstellung, dass es so etwas wie geheime Netzwerke oder eine geheime Weltregierung gibt, die an der Wall Street sitzt. Vor allem in den großen Staaten, aber auch in vielen kleineren passiert das meiste noch immer auf nationaler Ebene.
STANDARD: Wie viel Macht haben diese nationalen Wirtschaftseliten?
Hartmann: Sie sind in vielen Fragen außerordentlich mächtig. Die deutsche Autoindustrie hat es zum Beispiel über lange Jahre geschafft, die Abgasgrenzwerte in der EU zu beeinflussen, einfach weil die deutsche Regierung ihre Interessen vertreten hat. Aber wirtschaftliche Eliten werden begrenzt durch politische Entwicklungen wie den Aufstieg des Rechtspopulismus. Mein aktuelles Lieblingsbeispiel ist der Brexit. Die britische Wirtschaftselite, also vor allem die großen Finanzinstitute in der City of London, hat alles unternommen, um ihn zu verhindern. Aber sie haben es nicht einmal geschafft, die konservative Partei, die ja von ihnen zu erheblichen Teilen finanziert wird und über Jahrzehnte ihr natürlicher Verbündeter war, auf ihren Kurs einzuschwören.
STANDARD: Woher kommt dann die weitverbreitete Annahme, Wirtschaftslenker hätten so viel Macht?
Hartmann: Es gibt zwei Gründe. Zum einen verkünden Spitzenpolitiker seit 20 Jahren mantraartig, dass Steuersenkungen alternativlos sind, weil die Wirtschaft so stark ist. Egal ob Konservative oder Sozialdemokraten, es läuft immer auf dasselbe hinaus: Man kann nichts mehr auf staatlicher Ebene regeln, denn das Geld ist ein scheues Reh, die Konzerne und die Reichen können hingehen, wo sie wollen. Wenn die Politik verkündet, dass sie das nicht verhindern kann, ist das eine Bankrotterklärung. Auf der anderen Seite weisen die Unternehmen immer höhere Gewinne aus, die Reichen werden reicher. Da liegen einfache Antworten nahe. Und dass man für Veränderung jemand komplett Neuen wählen muss. Denn die Politiker, die die ganze Zeit erklärt haben, sie könnten nichts ändern, die werden auch nichts ändern, ist die verständliche Haltung von vielen.
STANDARD: Welche politischen Maßnahmen empfehlen Sie?
Hartmann: Was man machen kann, hängt natürlich von der Größe des Landes ab. Aber selbst Österreich kann mehr machen, als man gemeinhin denkt. Weil die Eliten und auch die Unternehmen im Kern national sind, kann man den Drohungen, sie würden einfach weggehen, viel gelassener gegenüberstehen. Länder wie Deutschland können es machen wie die USA. Von über 300 US-Milliardären unter den 1.000 reichsten Menschen der Welt leben ganze drei im Ausland, von 67 Deutschen aber 19, davon 14 in der Schweiz. Die US-Behörden sagen, es ist uns egal, wo jemand lebt. Solange er unsere Staatsbürgerschaft hat, zahlt er unsere Steuern. Und wenn er in der Schweiz weniger zahlt, zahlt er den Differenzbetrag bei uns nach. Und wenn er dann die Staatsbürgerschaft abgibt, muss er eine Exitsteuer zahlen von mehr als 20 Prozent auf sein gesamtes Vermögen. Das verringert den Reiz, ins Ausland zu ziehen, natürlich deutlich. Genauso könnte man Unternehmen stärker besteuern. Viele Probleme wie die Unterfinanzierung öffentlicher Aufgaben würden entschärft. Dafür braucht man einfach Geld, und das ist am ehesten bei dem Teil der Bevölkerung zu holen, der seinen Anteil am gesamten Reichtum in den letzten 20 Jahren erheblich erhöht hat.
STANDARD: Männlich, weiß, über 50, Erben, Do-it-yourself-Milliardäre oder Vorstandsvorsitzende – wer ist das typische Mitglied der Wirtschaftselite?
Hartmann: Im deutschsprachigen Raum ist der Anteil der Erben außerordentlich hoch. Über 60 Prozent der reichsten Deutschen haben ihren Reichtum geerbt. Bei den Besetzungen von Spitzenpositionen in Unternehmen gilt für alle großen Industrieländer das Prinzip der sozialen Ähnlichkeit. Das heißt, es sind im Kern Männer aus demselben Land, die in den vermögendsten drei, vier Prozent der Bevölkerung aufgewachsen sind.
STANDARD: Top-Managern wird oft nachgesagt, sie seien tendenziell Narzissten und Egomanen.
Hartmann: Es gibt da oben keinen spezifischen Typ Mensch. Narzissten gibt es, aber charakterlich gleichen Wirtschaftseliten dem Querschnitt der Normalbevölkerung. Was sie allerdings abhebt, ist ihr Verhältnis zu Macht und sozialer Ungleichheit. Sie kommen eben mehrheitlich aus wohlhabenden und einflussreichen Kreisen. Das können sehr wohl Leute sein, die ehrlich, geradlinig und uneitel sind, aber sie nehmen soziale Ungleichheit nicht so wahr wie normale Menschen, weil sie immer auf der Seite der Gewinner waren. Das ist nicht deren Schuld, auch kein charakterlicher Makel. Sie sehen die Welt nur aus einer anderen Perspektive.
STANDARD: Frauen haben im Durchschnitt immer noch die weitaus weniger lukrativen Jobs. Welche Gleichstellungsmaßnahmen wären effizient?
Hartmann: Es gibt zwei zentrale Punkte. Auf den Positionen unter dem Topmanagement muss das Problem der Doppelbelastung Familie und Beruf entschärft werden, indem man bessere Betreuungsmöglichkeiten schafft, und zwar so früh im Leben des Kindes wie möglich. Wenn es um die wirklichen Spitzenpositionen geht, dann gibt es nur eine Maßnahme: Man muss eine Frauenquote einführen. Solange man sich auf Freiwilligkeit verlässt, wie in Deutschland seit 20 Jahren, ändert sich praktisch nichts. Und auch wenn ich dafür keine realistische Umsetzungschance sehe: Es müsste nach dem Vorbild der Frauenquote auch eine Quote für Arbeiterkinder geben.
STANDARD: Das klingt nach einer moralisch fragwürdigen Kategorisierung von Menschen.
Hartmann: Wenn ich die Frauenquote hernehme, dann gibt es eine Generation von Männern, die darunter stark leidet. Und zwar deshalb, weil sich die vorherigen Generationen von Männern nicht um das Problem geschert haben. Wenn Unrecht lange einzementiert war, wird es in einer Generation auch Unrecht geben für die, die lange davon profitiert haben. (Simon Moser, 18.10.2016)