Lenin, der Gründer der Sowjetunion, wird oft mit dem Satz zitiert: "Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen."

Demonstranten in Budapest im Jahr 1956.
Foto: Erich Lessing/Tyrolia Verlag

Diese Situation herrschte im Herbst 1956 in Ungarn vor, in Wahrheit aber in weiten Teilen Ostmitteleuropas. Über dem Großteil der Region lag die eiserne Klammer der sowjetischen Herrschaft. Die Länder, die Stalin im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte, waren – mit ganz wenigen Ausnahmen – einem Schreckensregime unterworfen. Es war mehr stalinistisch als kommunistisch: eine Mischung aus einem "wissenschaftlichen" Denkgebäude, dem Marxismus-Leninismus, und der persönlichen orientalischen Despotie des Georgiers Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin.

Stalin hatte nach dem Sieg über Hitlerdeutschland sein System von Massendeportationen, "Säuberungen", Schauprozessen, Zwangsarbeit für Millionen, regelmäßigen Erschießungen, kombiniert mit einer gewaltsamen Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, auf Ost- und Mitteleuropa übertragen. Überall übernahmen Kommunisten mit Rückendeckung der sowjetischen Besatzung die absolute Macht. Diese Länder waren aber, im Unterschied zu den Völkern der Sowjetunion, anderes gewohnt.

Über das Leben im kommunistischen System herrschen heute vor allem unter manchen Linken groteske Vorstellungen. Es bedeutete nicht nur Unfreiheit, sondern geradezu willkürlich herbeigeführte Armut, während im Westen bereits der Nachkriegsboom begann.

Paul Lendvai wurde in Budapest geboren, überlebte dank eines Schweizer Schutzpasses die NS-Diktatur. Im Vorfeld der ungarischen Revolution 1956 arbeitete er für sozialdemokratische Zeitungen, erhielt aber von der KP-Diktatur ein Berufsverbot, dass zufällig am Tag des Aufstandes aufgehoben wurde. Lendvai erlebte die dramatischen Kämpfe, den Zusammenbruch der Freiheitsbewegung, ehe er 1957 einen Aufenthalt in Polen zu einer Flucht nach Österreich nutzte. In Wien erarbeitete er sich rasch eine Position als Osteuropa-Experte, auch für die britische "Financial Times". Vor allem im ORF brachte er seine Expertise im ORF ein. Als Herausgeber der "Europäischen Rundschau" bietet Lendvai ein Forum für internationale Politikdiskussionen. Er betrachtet kritisch und besorgt die Entwicklung zum Autoritären in Ungarn. Im Gespräch erinnert sich Lendvai an den Aufstand vor 60 Jahren und beurteilt die Entwicklung unter Viktor Orban.
derStandard.at

Nach Stalins Tod 1953 begann in der Sowjetunion politisches Tauwetter. Und im Februar 1956 hielt der neue Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, vor tausenden Delegierten des 20. Parteitages der KPdSU eine Geheimrede, in der er Stalins "Personenkult" und einen Teil, beileibe nicht alle seiner Verbrechen offenlegte. Die Sickerwirkung dieser "Entstalinisierung" war ungeheuerlich. Gleichzeitig versuchte Chruschtschow eine außenpolitische Öffnung. Der Österreichische Staatsvertrag mit dem Ende der Besatzung und der Erklärung der Neutralität war das stärkste Signal.

Es begann mit Studentendemos

Wenn man einen Spalt der Tür zur Freiheit öffnet, drängen oft plötzlich die ungeduldigen Massen durch.

In diesem Herbst hatten schon in Polen Studentenproteste begonnen; am 23. Oktober 1956 demonstrierten ungarische Studenten an der Technischen Universität in Budapest aus Solidarität mit den polnischen Kommilitonen. Die Menge wuchs an, bis 200.000 Menschen vor dem Parlament am Donauufer demonstrierten. Das Rundfunkgebäude wurde gestürmt. Das riesige Stalin-Denkmal am Stadtrand wurde umgestürzt, mit einem Traktor vors Parlament gebracht und dort zertrümmert. Aus den Fahnen mit den Nationalfarben wurden Hammer und Sichel herausgeschnitten.

Der Fotograf Erich Lessing war in den Revolutionstagen 1956 in Budapest und nahm Fotos wie dieses auf.
Foto: Erich Lessing/Tyrolia Verlag

Inzwischen hatten Polizeikräfte das Feuer eröffnet. Die Aufständischen bewaffneten sich. Binnen Stunden brach das Regime zusammen, die verhassten Mitglieder der Geheimpolizei wurden gelyncht. Der Aufstand breitete sich auf ganz Ungarn aus. Ein Generalstreik wurde ausgerufen. In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober unternahmen sowjetische Truppen eine Militärintervention, es kam zu schweren Gefechten und Zerstörungen in der Budapester Innenstadt. Damit wurde aus einem spontanen Volksaufstand gegen das verhasste ungarische KP-Regime ein nationaler Befreiungskampf gegen die russischen Unterdrücker. Der ungarische Nationalismus erlebte eine massive Aufwallung.

Die British Pathé berichtet 1956 über Ungarn.
British Pathé

Inzwischen war der Reformkommunist Imre Nágy zum Regierungschef ernannt worden, er bildete eine "nationale Regierung" unter Einbeziehung von Nichtkommunisten. Am 26. Oktober wurde ein Angriff von Sowjeteinheiten, gemeinsam mit KP-Verbänden, auf das Hauptquartier der Aufständischen in der Kilian-Kaserne niedergeschlagen.

Am 29. Oktober geschieht das Unerhörte: Die Sowjetpanzer ziehen sich aus Budapest zurück. Einen Tag später erklärt die Sowjetunion "die gegenseitige Achtung der Selbstständigkeit der sozialistischen Staaten". Das wird als Lockerung des eisernen Griffs über die "Bruderstaaten" interpretiert. Längst diskutiert man in der Reformregierung den Austritt aus dem östlichen Militärbündnis Warschauer Pakt und eine Neutralität nach österreichischem Muster.

Flaggen und Bücher wurden verbrannt.
Foto: Erich Lessing/Tyrolia Verlag

Kurz besteht die Hoffnung, dass die neue Sowjetführung sich mit einer Art nationalkommunistischer Regierung plus Neutralität abfindet. Aber die Hardliner in Moskau haben unschlagbare Argumente: Nágy hat bereits das Ende der Einparteienherrschaft und damit des "Sozialismus" verkündet; traditionelle konservative Parteien wie die Kleinen Landwirte organisieren sich. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn wird verlangt. "Wenn Ungarn weg ist, bricht der ganze Ostblock zusammen", so umreißt der Publizist Paul Lendvai die (berechtigten) Großmachtängste der UdSSR.

Der Westen verkennt die Lage

Gleichzeitig begehen Teile des Westens eine blanke weltpolitische Idiotie. Der neue Herrscher über Ägypten, Oberst Gamal Abdel Nasser, hat den Suezkanal verstaatlicht. Die alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich besetzen in völliger Verkennung ihrer Position gemeinsam mit Israel den Kanal. US-Präsident Dwight D. Eisenhower zwingt sie aber, dieses spätkolonialistische Abenteuer abzubrechen. Aber auch die USA begehen schwere außenpolitische Fehler: Der Propagandasender Radio Free Europe weckt bei den Aufständischen falsche Hoffnungen auf ein amerikanisches Eingreifen. Die Politik des "Containment", der Eindämmung des sowjetischen Expansionsdranges, hat funktioniert, der von Außenminister John Foster Dulles erträumte "Rollback" (Wiederaufrollen des sowjetischen Machtbereichs) kann nicht funktionieren, wenn man nicht einen neuen Weltkrieg will.

Straßenkampf während der ungarischen Revolution.
Foto: Erich Lessing/Tyrolia Verlag

Die sowjetische Führung hat bereits am 31. Oktober eine neuerliche Militärintervention beschlossen. Wenn der Griff eines Systems wie des sowjetischen nicht total ist, kann es sich wegen seiner inhärenten Defizite nicht halten. Am 1. November überschreiten neue Sowjettruppen die ungarischen Grenzen. Imre Nágy erklärt den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität. Regimetreue Kommunisten wie János Kádár fliehen nach Moskau. Am 4. November beginnt der Generalangriff der sowjetischen Truppen mit Panzern und Artillerie. Budapest, das schon in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs schwer litt, wird Schauplatz brutaler Kämpfe. Die Aufständischen, nicht wenige Frauen darunter, vollbringen im Nahkampf mit Molotowcocktails gegen Panzer echte Heldentaten. Aber gegen die sowjetische Militärmaschinerie ist nicht anzukommen.

Zweiter Teil des Videos: Paul Lendvais Einschätzungen zu Viktor Orbáns Ungarn.
derStandard.at

Am 15. November ist es vorbei. Die Führer der Revolution, Nágy an der Spitze, werden in Fallen gelockt, verhaftet und hingerichtet. Eine Welle von Hinrichtungen und schweren Kerkerstrafen folgt. Die Kämpfe haben rund 4000 Ungarn und 700 Sowjetsoldaten das Leben gekostet. Rund 200.000 Ungarn fliehen, etwa 180.000 nach Österreich.

Übrigens: Was tat bei alledem Österreich?

Es verhielt sich offiziell recht mutig, aber besonnen. Die Regierung Julius Raab forderte die Sowjetunion, stellte das embryonale Bundesheer an die Grenze, wies aber niemanden zurück. Der Freiheitskampf wurde offiziell nicht unterstützt, humanitäre Hilfe durch politisch sehr aktive Private (Konvois bis Budapest) wurden nicht behindert.

Die Fotos stammen von dem berühmten Fotografen Erich Lessing, der sie 1956 und später in Ungarn aufnahm. Sie und viele andere sind in dem Band Ungarn 1956 enthalten (Tyrolia-Verlag), dessen Textteil vom Historiker Michael Gehler stammt.

Selbstverständlich hatte man Angst vor einer sowjetischen Grenzüberschreitung, beruhigte sich aber, wie der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, mit der Überlegung: "Das hätte ja für die Sowjets das ganze Manöver mit dem Staatsvertrag sinnlos gemacht." Rund 20.000 Ungarn bleiben auf Dauer in Österreich.

Lehre für alle anderen

Für die Insassen des kommunistischen Völkerkerkers war es eine Lehre: Solange die Sowjets zu Gewaltlösungen bereit sind, hat eine gewaltsame Revolution keinen Sinn. Erst als mit Gorbatschow jemand an die Macht kam, der nicht schießen lassen wollte, als man in Ostberlin, Polen und Prag die Implosion eines lebensunfähigen Systems gewaltfrei vorantrieb (mit Demonstrationen von Millionen Menschen), fiel dieses System unblutig in sich zusammen.

Den Ungarn war es inzwischen noch am besten gegangen. Der zurückgekehrte János Kádár ließ ein wenig Privatwirtschaft zu, die Konsumlage besserte sich. Ungarn wurde "die lustigste Baracke des Ostblocks". Und 1989 war dann sowieso alles vorbei. (Text: Hans Rauscher, Video: Maria Von Usslar und Meggi Stelter, Produktion: Sebastian Pumberger)