Wien – Der Hut lag auf dem alten Röhrenfernseher – üppig verziert mit schwarzer Spitze und großen, rosafarbenen Blüten. Für die Theatergruppe war damit klar, dass die Fräulein-Bürstner-Szene aus Franz Kafkas Der Process in diesem Raum spielen würde: "Das Einzige, was wir über die Figur wissen, ist, dass sie einen mit Blumen geschmückten Hut trägt", sagt Veronika Glatzner.

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Die 36-jährige freischaffende Schauspielerin, Regisseurin und Stadtsoziologin gründete vor zwei Jahren "aus Interesse für eine Stadtentwicklung, die präsent ist", den Verein Tempora für vorübergehende Kunst. Er bespielt ausschließlich temporär leerstehende Räumlichkeiten, um auf den Leerstand in der Stadt, der "nicht vermietet, verkauft oder genutzt wird", und auf das Aussterben kleiner Geschäfte aufmerksam zu machen. "Es ist eine von vielen Initiativen, Leerstand kreativ zu nutzen und damit den städtischen Raum zu beleben", sagt Glatzner. Und man mache den Ort selbst sichtbar, "vielleicht auch für Leute, die ihn kaufen und nutzen wollen. Meine Kritik richtet sich an die, die Leerstand besitzen, ihn aber nicht zur Verfügung stellen."

Foto: Christian Fischer

Das zweite Projekt des Vereins, K.s Frauen, eine adaptierte Fassung von Kafkas Roman, die die vier weiblichen Figuren in den Mittelpunkt rückt, wurde in einer derzeit leerstehenden Wohnung in der Wollzeile im ersten Bezirk in Wien inszeniert. "Es passt zum Stück, dass in dem Haus lauter Anwaltskanzleien sind", sagt Glatzner. Das Apartment bezeichnet sie als "Glücksfall. Wir haben nach einer leeren Wohnung gesucht und eine möblierte, atmosphärisch aufgeladene Spielstätte bekommen" – Requisiten inklusive.

Die weitläufige Altbauwohnung habe einer "alten Dame gehört, die sie blitzartig verlassen" – und den Großteil ihres Hab und Guts zurückgelassen hat: Möbel, Geräte, Teppiche, einen Flügel, Schmuck, Kleidung. "Wir haben Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg und eine Geburtsurkunde aus dem Jahr 1876 gefunden", erzählt Glatzner. Das Apartment sei ein "Vakuum; es muss jahrzehntelang unverändert geblieben sein. Die Atmosphäre ist unglaublich." Es sei so interessant, sagt Glatzner, dass es in Konkurrenz zum Stück getreten sei und den Schauspielern ein wenig die Show gestohlen habe.

Christian Fischer

Das Publikum habe sich oft mehr für die alten Fotos und persönlichen Gegenstände interessiert, die in dem ausgefallenen Theaterraum so belassen wurden, wie man sie vorgefunden hatte. Das Publikum konnte sich frei durch die Zimmer bewegen und die Szenen, die in verschiedenen Konstellationen mehrfach gezeigt wurden, nach Belieben ansehen.

Theater, so die Idee von Tempora, soll "in andere Lebensräume transferiert werden und in den gewohnten Alltag einbrechen", sagt Glatzner. Beim ersten Projekt des Vereins wurde nicht eine Wohnung, sondern die Straße zum Bühnenbild. Denn die Darsteller spielten in den Schaufenstern leerstehender Erdgeschoßlokale, während das Publikum auf der Verkaufsfläche stand. Grätzel im sechsten, siebenten und 17. Bezirk wurden bereits bespielt.

Christian Fischer

Dass K.s Frauen im ersten Bezirk inszeniert wurde, liege daran, dass es "sehr schwierig" sei, Leerstand für eine Zwischennutzung zu bekommen. Man müsse also "nehmen, was man kriegen kann". Eigentlich wolle man aber Orte bespielen, die "strukturell nicht so entwickelt sind, wo benachteiligte Bevölkerungsgruppen leben, wo Greißler eingehen", sagt Glatzner. Dort, wo es schwieriger sei, ein theaterinteressiertes Publikum hinzulotsen.

Für die nächsten Projekte wünscht sie sich auch, in einer anderen Stadt zu spielen oder "irgendwann einmal in einem leerstehenden Haus". (Text: Christa Minkin, Video: Christian Fischer, 20.10.2016)