"Man kann das nie und nimmer rechtfertigen", sagt Rechtsphilosoph Gerhard Luf über den Abschuss des Flugzeugs.

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Wien – 86,9 Prozent der ORF-Zuseher befanden Lars Koch nicht schuldig. Der Major hatte ein Flugzeug mit 164 Passagieren an Bord abgeschossen, weil es in der Gewalt eines Terroristen Kurs auf die Münchner Allianz-Arena mit 70.000 Fußballfans genommen hatte. Ferdinand von Schirach macht in seinem gleichnamigen Theaterstück "Terror – Ihr Urteil" das Publikum zu Geschworenen und lässt es über schuldig oder nicht schuldig abstimmen. Die Verfilmung zeigten ORF, ARD und SRF Montagabend zeitgleich und diskutierten den fiktiven Fall im Anschluss mit Experten. Der Rechtsphilosoph Gerhard Luf sieht darin ein ambivalentes Spiel, weil die "Wirklichkeit viel komplexer ist als diese Geschichten".

STANDARD: Was halten Sie davon, anhand eines fiktiven Falles – Militärpilot rettet 70.000 Menschen im Stadion, indem er ein entführtes Flugzeug mit 164 Passagieren an Bord abschießt – über rechtliche und moralische Fragen des Tötens im Fernsehen abstimmen zu lassen?

Luf: Es ist etwas marktschreierisch und offensichtlich sehr stark von 9/11 inspiriert. Natürlich kann man mit so hypothetischen Situationen sehr viel Beachtung gewinnen. Die Frage, wie weit man ein Publikum überfordert, weil die emotionale Komponente da ist und man mit jemandem mitleidet, ist eine andere Geschichte. Es hat etwas Reißerisches. Der Angeklagte ist unheimlich sympathisch, was es noch schwerer macht.

STANDARD: Ihn per Abstimmung schuldig zu sprechen?

Luf: Wäre er ein fieser Typ, wären die Prozentsätze runtergefallen. Mit filmischen Mitteln kann man etwas so zuspitzen, dass die Entscheidung eindeutiger wird. Man ist nicht neutral, sondern scheinneutral. Ein Problem ist auch, dass man auf dem Reißbrett Konstellationen konstruieren kann, als ob sie alle Informationen böten, die für die Entscheidung notwendig sind. Da habe ich den Eindruck, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist als diese Geschichten. Das ist mein Problem. Spieltheoretisch schließt man Sachen aus, um größere Eindeutigkeiten zu haben.

"Terror" mit Florian David Fitz (Angeklagter Lars Koch), Lars Eidinger (Verteidiger Herr Biegler) und Martina Gedeck (Staatsanwältin Frau Nelson).
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STANDARD: Kann man ein rechtlich heikles Thema in der Form aufbereiten und Zuseher über Schuld oder Unschuld abstimmen lassen?

Luf: Die Sache ist ambivalent. Auf der einen Seite ist es verdienstvoll, Fragen zu diskutieren, die über das Alltägliche hinausgehen. Allerdings konnten bei den Diskussionen gewisse grundlegende Unterscheidungen nicht beachtet werden, weil die juristischen und philosophischen Informationen unzureichend waren.

STANDARD: Welche?

Luf: In der ORF-Diskussion nach dem Film wurde zu Recht zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen unterschieden. In der Jurisprudenz ist das selbstverständlich. Da ging es um die Frage, ob man diese Sachen rechtfertigen kann. Die Diskutanten haben gesagt, dass man das insoweit nicht rechtfertigen kann, als man nicht das Lebensrecht von Menschen gegeneinander aufrechnen kann. Das geht nicht. In Deutschland geht es über den Begriff der Würde des Menschen. Jeder Mensch hat als solcher, egal ob gut oder böse, ob Frau oder Mann, Würde und darf in dieser Würde nicht verdinglicht werden. Diese Form von Verdinglichung geschieht, wenn ich zum Beispiel jemanden abschieße, um andere zu retten.

STANDARD: Gesetzlich ist das klar geregelt.

Luf: Das hat auch das deutsche Bundesverfassungsgericht so ausgedrückt, indem es gesagt hat, dass man so die Würde jener Menschen verdinglicht, die im Flugzeug sitzen. Salopp gesagt kann ich nicht das Lebensrecht von wenigen gegen das Lebensrecht von mehreren aufrechnen. Die Konsequenz ist, dass sich keine Regel rechtfertigen lässt, die einen Minister oder jemand anderen ermächtigt, den Abschuss zu befehlen. Das ist gegen die Verfassung. Und auch gegen sämtliche moralische Intuitionen, weil man das nicht legitimieren kann. Täte man das, würde man sich in den Gegensatz der eigenen Grundlagen setzen. Das ist die Rechtfertigungsebene.

STANDARD: Und die andere?

Luf: Der Pilot ist in der tragischen Situation, irgendetwas tun zu müssen. Das ist eine katastrophale Konstellation. Die Frage ist dann, ob Gründe vorliegen und man sagen kann, dass er entschuldigt ist. Dann tut sich die Palette auf, und man sagt: Okay, entweder überhaupt Freispruch oder etwa Schuldspruch bei extremen Milderungsgründen. Das ist die juristische Dimension, die natürlich auf sehr viele Informationen angewiesen ist, die ich überhaupt nicht zur Hand habe. Das ist die Grundstruktur der Argumentation. Wird das verwischt, und man sagt Freispruch, dann verwischt man Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe. Das ist sehr diffus.

STANDARD: Zu komplex für einen 90-minütigen Film.

Luf: Elisabeth Holzleithner (Juristin, Anm.) hat in der ORF-Diskussion gesagt, dass es von der moralischen Seite her eine Richtung gibt, die das rechtfertigt: nämlich den Utilitarismus, der von der Verminderung des größten Unglücks ausgeht. Da ist die Gesamtmenge des Glücks oder des Unglücks maximiert oder minimiert. Diese Konzeption steht in einem eklatanten Gegensatz zu unserer Grundrechtsstruktur. Die lässt so etwas nicht zu ...

STANDARD: ... wird aber in dem Film aufgeworfen und diskutiert.

Luf: Natürlich, da kann man nur sagen: Ein System, das Menschenrechte anerkennt, kann dieses utilitaristische Kalkül nicht tragen. Da kann ich nicht verhandeln und das außer Kraft setzen.

STANDARD: Das ist Ihre Kritik an dem Film?

Luf: Den Film selbst kann ich nicht kritisieren, weil ich ihn nicht gesehen habe, sondern nur den Stoff. Ich weiß nur, dass beispielsweise diese Geschichte mit dem Lügenverbot, das der Verteidiger aufwirft, lächerlich ist. Das ist ein blöder Schmäh, und ich kann nicht etwas verwenden, das bei Kant (deutscher Philosoph der Aufklärung, Anm.) sehr umstritten ist, um etwas anderes zu bekämpfen. Die deutsche Grundrechtsjudikatur setzt sich mit der Unantastbarkeit der Würde des Menschen auseinander. Das ist das zentrale Prinzip aller Grundrechte. Da judiziert das deutsche Bundesverfassungsgericht mit der sogenannten Objektformel.

STANDARD: Die wie lautet?

Luf: Man darf den Menschen nicht total instrumentalisieren, um ein anderes Ziel zu erreichen. Wenn ich ihn töte, um die Leute im Stadion zu verschonen, ist das eine totale Instrumentalisierung. Man macht ihn zum bloßen Objekt. Bei Kant gibt es in der "Kritik der praktischen Vernunft" eine Stelle, bei der es um die Formel des kategorischen Imperativs geht, und er sagt, man soll den Menschen niemals bloß als Objekt, sondern immer als Subjekt anerkennen. Wann man jemanden zur Sache macht, ist höchst umstritten. Das passiert sicher, wenn man ihn versklavt, foltert, aber auch, wenn ich töte, um andere zu retten. Daher bestehen gewisse Parallelen zwischen der Objektformel des deutschen Bundesverfassungsgerichtshofs und der kantischen Tradition. Wenn die aber mit so etwas wie einem Lügenverbot kommen, ist das ein blöder Schmäh, behaupte ich. Das ist der reine Unsinn. Ein Gag, der absolut unseriös ist.

STANDARD: Ferdinand von Schirach ist eigentlich Jurist.

Luf: Von der Sache her sind die Grundstrukturen der Fragestellung sehr eindeutig. Man tut sich bei der Frage, ob jemand schuldig oder nicht schuldig ist, nicht leicht, weil natürlich Mitgefühl im Spiel ist. Er ist alleine, völlig überfordert. Da plädiert man emotional auf Freispruch, auf der anderen Seite gibt es sehr viele Umstände, dass man sagen muss: Ist das schuldausschließend? Rechtfertigend kann es nicht sein. Das ist der Unterschied. Und dazu stehe ich. Man kann das nie und nimmer rechtfertigen. Ein Staat, der das zulässt, setzt sich in einen eklatanten Widerspruch zu seinen eigenen normativen Grundlagen. Wenn er das macht, hat er ein Problem. Das ist so ähnlich wie bei der Folter, wenn manche sagen: Na ja, ein bisschen foltern geht schon, dann können wir etwas erreichen. Dann ist aber das Moment, etwas normativ auszuschließen, weg.

STANDARD: Wie sollen sich da die Zuseher ein Urteil bilden?

Luf: Völlig richtig. Ich habe vorher mit Leuten gesprochen und gesagt, alles andere als eine überwältigende Mehrheit für Freispruch ist völlig unplausibel. Unter bestimmten Bedingungen in einer Situation des entschuldbaren Notstands ist ein Freispruch ja durchaus eine sinnvolle Denkmöglichkeit. Das ist ja klar. Nur, man muss trennen: Rechtfertigen kann man es nicht, sondern nur entschuldigen. Da geht es um den individuellen Fall. Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft in den letzten Jahren eher zu einem moralischen Common Sense tendiert, den man utilitaristisch nennen kann. Nämlich dass man moralische Entscheidungen sehr stark von der Nutzenfunktion abhängig macht. (Oliver Mark, 19.10.2016)