Inhalte des ballesterer (ballesterer.at) Nr. 116 (November 2016) – Seit 20. Oktober im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (kiosk.at/ballesterer)

Schwerpunkt: Old Firm

DIE STRASSEN VON GLASGOW

Das schottische Derby und seine Geschichte

ZWISCHEN DEN WELTEN

Protestant Stein, Katholik Johnston

KEIN FREUNDSCHAFTSSPIEL

Von Platzstürmen und Messerattacken

"DIE RIVALITÄT IST EIN RELIKT"

Kulturwissenschaftler Boyle über das Derby von Glasgow

Außerdem im neuen ballesterer

ROT-SCHWARZES ROULETTE

OGC Nizza

MOSAIK DES ERFOLGS

Sassuolo Calcio

DER ROMANTISCHE KÖNIG

Ein Loblied auf Francesco Totti

ABSCHIED VON EINEM SIR

Heribert Weber erinnert sich an Karl Schlechta

AUCH SPRENGEN IST KEINE LÖSUNG

Ein Anstoß über die Linzer Gugl

DAS 55. MITGLIED

Der Kosovo ist bei der UEFA

FEHLENDER CLASICO

Real Madrid will keine Frauensektion

LIZENZVEREINE STATT TRADITIONALISTEN

Frauenfußball in Deutschland

SCHWERE EINGEWÖHNUNG

West Ham United im neuen Stadion

FUSSBALL VON MORGEN

Die eSports-Abteilung von Schalke

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Brasilien, Deutschland, England und Tschechien

"Waren Sie schon einmal bei einem Old Firm? Sie werden überwältigt sein", sagt Raymond Boyle, als er den ballesterer am Freitagvormittag, einen Tag vor dem Derby, am großen gusseisernen Eingangstor der Universität Glasgow in Empfang nimmt. Die Uni hätte der ideale Drehort für die Verfilmungen von "Harry Potter" sein können. Sie erhebt sich auf einem Hügel über Glasgow, ihre hohen Türme sind von der ganzen Stadt aus zu sehen. Nach einer kurzen Führung durch das 1451 im neugotischen Stil erbaute Gebäude nehmen wir mit Automatenkaffee in der Hand in der Kantine Platz. Ziemlich bald wird klar: Das Glasgower Derby ist eines der Lieblingsthemen von Boyle.

ballesterer: Das Old Firm ist zurück, Medien aus aller Welt blicken wieder nach Glasgow. Welche Bedeutung hat das Derby heute noch?

Raymond Boyle: Fußball ist zu einem globalen Produkt geworden. Jede Liga muss sich die Frage stellen, warum Menschen in anderen Ländern ihre Spiele anschauen sollten. Man muss etwas Besonderes anbieten, es geht um Einzigartigkeit. Es gibt viele Derbys, aber das in Glasgow ist einzigartig.

ballesterer: Warum?

Celtic und die Rangers sind beide schon im 19. Jahrhundert gegründet worden. Die Geschichte, die Namen, die Größe der Klubs und ihre Vermarktung sind unerreicht. Sie haben mit dieser Rivalität auch eine Menge Geld verdient. Das Derby war für sie so lukrativ, weil die Fans diese Begegnung wollten. Den Begriff "Old Firm" selbst haben wohl Journalisten etabliert, man wollte zeigen, dass die beiden Vereine trotz ihrer grundsätzlichen Unterschiede in einer engen Beziehung stehen, die ihnen einen großen wirtschaftlichen Nutzen bringt. Daher der Name Old Firm – alte Firma.

ballesterer: Celtic-Fans weigern sich seit der Neugründung der Rangers, den Begriff zu verwenden. Ist das gerechtfertigt?

Boyle: Juristisch vielleicht. Streng genommen sind die Rangers 2012 aufgelöst worden. Für viele Celtic-Fans ist der Rivale damit gestorben und das Old Firm mit ihm. Sie nennen es nun Glasgow-Derby. Die Frage ist aber, wer die Identität eines Vereins schafft? Ist es der Klub, oder sind es die Fans? Für viele Rangers-Fans ist es derselbe Verein wie 2012, eben weil sie selbst geblieben sind. 1994 ist Celtic kurz vor dem Bankrott gestanden. Wäre der Klub damals aufgelöst worden, würden die Rangers-Fans nun vermutlich genau das Gleiche sagen. Dieser Streit über die Bezeichnung des Derbys ist Teil der Rivalität geworden. Das ist schon interessant, wie man Vereine in Geschäftsmodelle oder Identitäten unterscheiden kann.

ballesterer: Wie sehen die Unterschiede zwischen den Anhängern der beiden Klubs denn heute aus?

Boyle: Auf der Straße würde heute niemand einen Unterschied zwischen den Fans erkennen. Vor 30 Jahren wäre das noch etwas anders gewesen: Bis Mitte der 1980er Jahre sind die Rangers-Fans eher aus der gehobenen Mittelschicht gekommen, die Celtic-Fans waren sozial schlechter gestellt. Aber auch das hat sich geändert. Inzwischen sind sie die Karriereleiter hochgeklettert und haben bessere Jobs als früher. Wahrscheinlich ist die Hälfte der heutigen Stadiongeher unter 30, die kennen Schottland nur so. Der große Unterschied zwischen den beiden Lagern leitet sich nicht mehr aus persönlichen Erfahrungen ab, sondern aus der Tradition, auf die sie sich berufen. Bei Celtic ist es die Herkunft der Vorfahren, der katholische und irische Hintergrund. Der Verein ist ein wichtiger Bezugspunkt für diese gesellschaftliche Gruppe gewesen. Die Rangers haben sich immer mehr mit Schottland und der protestantischen Religion verbunden gefühlt und hatten eine recht engstirnige Weltanschauung.

ballesterer: Was meinen Sie damit?

Boyle: Stellen Sie sich vor, Sie könnten nur ein Österreicher sein, wenn Ihre Vorfahren seit 400 Jahren in Österreich gelebt hätten. Das meine ich mit engstirnig. In Schottland war lange das Bild vorherrschend, dass nur ein Protestant ein echter Schotte sein könne. Die Identität der Celtic-Fans kommt hingegen aus der Außenseiterrolle. Auch meine Eltern sind aus Irland eingewandert, und in den 1960er Jahren haben sie sich als Katholiken nicht für jeden Job bewerben können. Aber die Gesellschaft hat sich verändert, eine solche Diskriminierung ist heute längst verboten, und auch die Vorurteile sind größtenteils verschwunden. Das heißt aber nicht, dass manche Menschen nicht nach wie vor so denken.

Bild nicht mehr verfügbar.

Jubel vor der falschen Tribüne.
Foto: Reuters/Cheyne

ballesterer: Wird dieses Denken in der Fußballrivalität besonders gepflegt?

Boyle: Die Rivalität ist ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Sowohl die Fans als auch die Vereine haben sich weiterentwickelt. Heute macht vielleicht die Familiengeschichte den größten Unterschied aus, ob du Fan von der einen oder der anderen Mannschaft wirst. Die entscheidet ja auch oft deine Religion. Und bist du katholisch, wirst du wahrscheinlich Celtic-Fan. Aber nicht jeder Katholik ist Celtic-Fan. Das Gleiche gilt für die Rangers. Aber wie viele von den 50.000 oder 60.000 im Stadion sind wirklich noch religiös? Wie viele gehen in die Kirche und beten? Wahrscheinlich ein sehr geringer Prozentsatz. Dennoch heften sich viele Fans eine gewisse Identität an. Fan eines Klubs zu sein, ist immer mit Tradition verbunden. Sonst wären Fußballvereine wie Supermärkte: An einem Tag geht man zu Tesco, am anderen zu Sainsbury. An einem Tag unterstütze ich die Austria, am nächsten Rapid. So funktioniert das nicht.

ballesterer: Würden Sie die Glasgower Klubs als kulturelle Institutionen bezeichnen?

Boyle: Absolut! Fußballvereine werden oft nur noch als Unternehmen gesehen. In Schottland ist das Problem noch nicht so groß, zumindest verglichen mit England. Die Besitzer der Glasgower Klubs sind zwar Geschäftsleute, aber auch Fans. Sie haben erkannt, dass man den Verein wirtschaftlich entwickeln muss, dabei kann die Vergangenheit eine große Rolle spielen. Sowohl beim Celtic Park als auch beim Ibrox Stadium finden Sie überall Relikte alter Zeiten. Am Fuße der Statue von Jock Stein beim Celtic Park steht es geschrieben: "Football without the fans is nothing." Seit Jahrzehnten stehen die Stadien an denselben Plätzen. Ein wenig wie Kirchen.

ballesterer: Lässt sich Glasgow in Gebiete aufteilen, in denen es mehr Celtic- oder mehr Rangers-Fans gibt?

Boyle: Nicht wirklich, aber es gibt Orte, die eine wichtige Bedeutung haben. Das Stadion der Rangers ist in Ibrox, gleich in der Nähe liegt Govan, traditionell sind beide Bezirke Schiffbauergebiete. Dort liegt das historische Zentrum der Rangers, der Schiffsbau macht einen großen Teil ihrer Identität aus. Das Stadion steht nicht zufällig dort. Genauso wenig ist es ein Zufall, dass der Celtic Park im Osten der Stadt steht, in dem sich traditionell die Einwanderer angesiedelt haben. Vor 100 Jahren war das ein sehr armer Bezirk.

ballesterer: Und außerhalb von Glasgow? Wie wird das Derby am Land gesehen?

Boyle: Beide Teams haben Fans im ganzen Land. Bei Derbys kommen Busse aus ganz Schottland in die Stadt. Für die kleineren Klubs ist das natürlich frustrierend. Stellen Sie sich vor, Sie sind Motherwell-Fan und sehen all die Busse Richtung Glasgow fahren. Die kleineren Klubs verweisen auf die lokale Identität, aber die Fans wollen Erfolg mit ihrem Team haben und internationale Spiele sehen.

ballesterer: Der Slogan der Rangers-Fans lautet "We are the people", also "Wir sind das Volk". Wie ist das gemeint?

Boyle: Der Gedanke dahinter ist, dass Celtic-Fans nie echte Schotten sein werden. Wer katholisch ist, kann kein Schotte sein. "We are the people" ist wie ein Gruß aus vergangenen Zeiten, es signalisiert den Celtic-Fans: "Ihr seid immer noch Einwanderer und nicht Teil unserer Gesellschaft."

Kein Freundschaftsspiel.

ballesterer: Im Stadion sind beim Derby auf Celtic-Seite irische Flaggen zu sehen und bei den Rangers-Fans der Union Jack …

Boyle: Das ist etwas, das viele Menschen nicht verstehen, sie sagen: "Das ist ein Spiel in Schottland, warum gibt es hier kaum schottische Fahnen?" Natürlich gibt es die, aber eben nur wenige. Die irische Nationalflagge und der Union Jack sind Symbole der alten Identität der beiden Vereine. In der Vergangenheit war das traditionelle Spiel in Irland nicht Fußball, sondern Gaelic Football. Celtic wurde hier in Schottland gegründet, man wollte aber nicht denselben Sport spielen wie in der Heimat – man wollte damals das typisch schottische Spiel spielen: Fußball.

ballesterer: Beleidigende Gesänge, die Bezug auf Religion und Herkunft nehmen, sind seit 2012 gesetzlich verboten. Wie sehen Sie das?

Boyle: Ich glaube, dass das schon eine positive Auswirkung hat. Aber schon vor dem Gesetz haben die Vereine versucht, solche Gesänge zu unterbinden. Sie haben den Fans gesagt, dass einige Chants nicht mehr erwünscht sind. Das hat auch zu Spannungen geführt. Das Argument der Klubs war, wenn ihr ein Ticket kauft, geht ihr einen Vertrag mit uns ein. Deshalb müsst ihr unseren Regeln folgen.

ballesterer: Ist die Gewalt unter Fans denn überhaupt noch so ein großes Thema?

Boyle: Nichts hat die Fußballgewalt in Glasgow so stark geprägt wie der Nordirland-Konflikt ab den 1960er und 1970er Jahren. Die Stadien waren ein Spiegelbild der Ereignisse in Irland. Und auch heute noch kommen zu Celtic-Spielen Busse aus ganz Irland nach Glasgow. Diese Tradition gibt dem Spiel einen gewissen Hass. Durch den Friedensprozess hat sich die Situation aber verbessert, und das hat auch einen positiven Einfluss auf das Derby gehabt. Es ist immer noch ein Spektakel, aber nicht mehr das Spektakel wie vor 40 Jahren, das von Alkohol, Terrorismus und einer anderen Gewaltkultur bestimmt war. (Martin Hanebeck und Benjamin Schacherl, 20.10.2016)