Benjamin Hirte machte u.a. jene Buchstaben, die auf US-Collegejacken abgebildet sind, zum Material.

Foto: Lisa Rastl

Wien – Die Objekte der österreichischen Künstlerin Anne Schneider bezaubern und verwirren die Sinne. Ein hautfarbenes "Würstel" etwa, das auf eine aufragende Metallstange gespießt ist: Es wirkt blasenartig weich und besteht doch aus Beton, der mittels Stoffsack gegossen wurde. Dessen Falten sind im Würstel verewigt, verbinden sich mit der feinen Textur des Materials zu einer faszinierenden Oberfläche.

Dass man Schneiders Arbeiten jedoch nicht aufs Äußere reduzieren oder gar als Materialfetischismus missverstehen sollte, darauf weist aktuell das Leopold-Museum hin. Einige Arbeiten Schneiders sind Teil der Ausstellung Poetiken des Materials. Mit dieser verfolgt Kuratorin Stephanie Damianitsch einen kunsttheoretischen Anspruch. In sechs Positionen, präsentiert in Quasi-Einzelausstellungen, untersucht sie jenes Phänomen, das im Kunstdiskurs "Neuer Materialismus" heißt.

Beton ist nicht bloß Beton

Dieser Begriff meint künstlerische Strategien, die den Bedeutungsgehalt verwendeter Materialien bewusst in ihre Arbeiten einbeziehen. Soll heißen: Beton und Textilien, wie Anne Schneider sie verwendet, stehen nicht nur für sich selbst. Sie bringen hier auch ihre Geschichte und Funktion mit, erzählen vom Bauen und von der Kleidung. Und so verweisen Schneiders Plastiken nicht zuletzt auf die Strategien des Menschen, seine Existenz zu bewältigen.

Dass Materialien und Dinge mit Bedeutung aufgeladen sind, mag manchem selbstverständlich klingen. In der Kunstgeschichte war es das indes nicht immer. Nicht nur galt das Material lange Zeit als passiver Träger einer Form. Im 20. Jahrhundert ging es vielfach darum, die ästhetische Eigengesetzlichkeit von Stoffen zur Geltung zu bringen, Kunstwerke zu schaffen, die außerhalb aller Fragen der Gesellschaft stehen sollten.

Hinten spröde, vorne spritzig

Dass die Idee hinter Damianitschs Schau eine etwas fachspezifische ist, zeigt sich indes auch in ihrem Titel: "Poetik" ist ein Begriff aus der Literaturtheorie. Er verweist auf die Lehre darüber, wie aus herkömmlicher Sprache Kunstsprache wird – in den "Frankfurter Poetikvorlesungen" etwa sprachen Autoren über ihre jeweiligen Schreibansätze. Im Leopold-Museum bezieht man den Begriff nun auf die Frage, wie bildende Künstler mit ihren zeichenhaft, ja "worthaft" gewordenen Materialien umgehen, um die ihnen eingeschriebenen Bedeutungen und Geschichten freizulegen.

An dieser Stelle sei der Exkurs in die Theorie auch schon wieder beendet. Das Schöne an Poetiken des Materials ist nämlich: Die Schau ist reichhaltig auch für jene, die nicht in die Fachdiskussion eingebunden sind. Die größtenteils für die Ausstellung geschaffenen Arbeiten (neben den erwähnten auch von Sonia Leimer, Benjamin Hirte und Mathias Pöschl) haben auch für sich genommen eine Menge zu erzählen.

Ein "Brief" an die Menschen in 5000 Jahren

Etwa eine direkt auf die Literatur bezogene Installation von Künstler Misha Stroj und Autor Michael Hammerschmid: Ausgehend von einem E-Mail-Dialog zur Frage, woran eine Skulptur respektive ein Gedicht zu erkennen sei, übersetzten sie rhetorische Figuren in schöne Objekte.

Besonders überzeugend sind die Beiträge von Christian Kosmas Mayer. Der Künstler zeigt u. a. ein Fototableau jener Gegenstände, die 1970 in Osaka in eine Zeitkapsel gepackt wurden, adressiert an die "Menschen in 5000 Jahren": Es handelt sich um eine Arbeit, die unmittelbar darüber nachdenken lässt, mit welchen "Dingzeichen" sich eine Gesellschaft hier beschrieb – aber auch über etwaige Bedeutungsverschiebungen, die sich innert 5000 Jahren durchaus ergeben könnten. (Roman Gerold, 20.10.2016)