Inselartig liegt das Geschäftsviertel Porta Nuova zwischen Arbeiterwohnungen. Wie diese zwei Realitäten zusammenpassen, wissen auch die Mailänder nicht. Diskussionen darüber gibt es schon lange.

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Das soziale Wohnprojekt Via Cenni im Westen der Stadt.

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Mit silbrig glänzender Fassade erhebt sich der Wolkenkratzer vom grauen Steinboden in den mit Regenwolken verhangenen Himmel. Grau in grau ist nicht nur das Wetter, sondern die Farbgebung des ganzen Areals rund um das höchste Gebäude Italiens, den Torre Unicredit in Mailand. Er bildet mit anderen Hochhäusern das Zentrum des Geschäftsviertels Porta Nuova nahe dem Bahnhof Porta Garibaldi. Nur der Bosco Verticale passt hier nicht ins Bild: Die Fassade der Wohntürme ist mit hunderten Bäumen und Sträuchern begrünt.

Wie passt dieses karge Areal, finanziert von ausländischen Investoren wie dem Land Katar, in diese Stadt, die in dieser Gegend vor allem durch Arbeiterwohnungen geprägt ist? Die Antwort auf diese Frage kennt auch die Architektin Katia Accossato nicht. Sie verfolgt die Diskussionen um die Nutzung des Gebiets schon seit vielen Jahren, hat in Mailand studiert und kennt die Bedenken der Mailänder: "Es fällt den Menschen schwer, einen Dialog zwischen diesen zwei Realitäten zu finden. Dieses Stadtentwicklungsprojekt ist eine Insel, die ein Identitätsproblem schafft."

Verlassene Viertel

Vier Kilometer westlich ein ähnliches Bild: Gläserne Bürohochhäuser ragen in den Himmel, Logos von Banken und Versicherungen prangen auf ihren Spitzen. Auch dieses Stadtentwicklungsgebiet mit dem Namen City Life wird von ausländischen Investoren finanziert.

Trotz vielversprechender Namensgebung ist hier von Leben nicht viel zu sehen, obwohl neben den Bürotürmen bereits Grünanlagen mit Spielplätzen und von Zäunen umgebene Wohnanlagen von Zaha Hadid und Daniel Libeskind fertiggestellt sind. "Bei weitem nicht alle Wohnungen sind verkauft, die Kaufpreise liegen bei 10.000 Euro pro Quadratmeter", sagt Accossato. Auch sie hofft, dass hier mehr los sein wird, wenn erst einmal fertiggebaut ist.

Wo aber leben die Mailänder, die sich die Eigentumswohnungen in den neuen Stadtvierteln nicht leisten können? Wie steht es um den sozialen Wohnbau in der 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt? Antworten auf diese Fragen wollte auch eine Delegation, bestehend aus Vertretern der gemeinnützigen Wohnwirtschaft und Journalisten aus Österreich, bei einem Besuch in Mailand finden.

14 Prozent in Sozialwohnungen

Der Druck auf dem italienischen Wohnungsmarkt ist groß, die Immobilienpreise sind hoch. 2,5 Millionen Wohnungen fehlen, 600.000 Haushalte haben dringenden Bedarf im öffentlichen und kommunalen Wohnsektor. Die Konsequenzen dieser Notlage: Zwei Drittel aller Italiener im Alter von 18 bis 34 leben laut italienischem Statistikamt Istat noch bei ihren Eltern, andere haben sich nach einem Bauboom Ende der 1990er-Jahre Eigentumswohnungen gekauft und sind dadurch heute noch stark verschuldet.

"Die Wohnbelastung in Italien ist heute um ein Drittel höher als noch vor zehn Jahren", weiß Markus Sturm, Obmann des Vereins für Wohnbauförderung. 72 Prozent der Italiener leben in Eigentumswohnungen, in Österreich sind es 58 Prozent. Im sozialen Wohnbau sind die Unterschiede besonders drastisch: Während in Österreich 20 Prozent in gemeinnützigen Wohnungen leben, sind es in Italien nur vier Prozent. Mailand steht etwas besser da als das gesamte Land – hier leben 14 Prozent in Sozialwohnungen.

"Eigentlich sollten Sozialwohnungen nur in Notsituationen bewohnt werden, aus denen sich die Mieter selbst wieder befreien können", beschreibt Corrado Bina den ursprünglichen Gedanken hinter dem Mailänder System. Das Unternehmen, für das er arbeitet, heißt La Metropolitana und bewirtschaftet die kommunalen Sozialwohnungen der Stadt. "Es hat sich aber herausgestellt, dass die Menschen sehr lange, sogar bis zu 35 Jahre in diesen Wohnungen leben." Anspruch haben Familien oder Einzelpersonen, deren Bruttohaushaltseinkommen 35.000 Euro pro Jahr nicht übersteigt. Je nach finanzieller Stellung bewegen sich die Mieten zwischen 20 und 200 Euro monatlich, so Bina.

Unterschiede zu Österreich

In diesem Punkt sieht Sturm einen der größten Unterschiede zum sozialen Wohnbau in Österreich: "Diese Wohnungen sind in Mailand für Menschen in schwierigen Lebenssituationen gedacht. In Österreich wollen wir mit dem gemeinnützigen Wohnbau hingegen breite Gesellschaftsschichten bedienen und auch die Mittelschicht ansprechen."

Wer in Mailand nicht zu den Ärmsten gehört, also mehr als 35.000 Euro jährlich verdient, sich aber auch Eigentumswohnungen in den schicken, neuen Stadtvierteln nicht leisten kann, hat erst seit wenigen Jahren auch hier die Chance, in sozialen Wohnanlagen unterzukommen.

Eines dieser Projekte mit dem Namen Via Cenni steht im Westen Mailands. Weil die Stadt der privaten Social-Housing-Stiftung, die das Wohnprojekt koordiniert, das Grundstück kostenlos überlassen hat, können die Wohnkosten weit unter dem Marktwert gehalten werden. Im Gegenzug sind 15 Prozent für kommunale Sozialwohnungen reserviert.

Offene Orte

"Hier steht das Zusammenleben im Mittelpunkt", erklärt eine Bewohnerin. Die Holländerin, die schon seit vielen Jahren in Mailand lebt, führt voller Stolz durch die Anlage. Obwohl sich auch hier das Wetter trüb zeigt, ist der Ort belebt und bunt. Der Komplex ist den lombardischen Höfen, die für die Region um Mailand typisch sind, nachempfunden.

Offene Laubengänge und Gemeinschaftsräume werden von allen Bewohnern genutzt, ebenso die Grünflächen und Spielplätze, die zwischen den Wohngebäuden liegen. Diese sind sogar für Menschen aus der Nachbarschaft zugänglich. "Die Mieter verwalten die Anlage selbst, sie bilden einen Verein", erklärt Giordana Ferri von der Stiftung.

Seit 2010 hat die Stadt Mailand einen neuen Flächennutzungs- und Bebauungsplan, in dem auch definiert ist, in welche Richtung sich die soziale Wohnungswirtschaft entwickeln soll. "Wir haben uns bemüht, die sozialen Brennpunkte ins Auge zu fassen. Die fünf am meisten betroffenen Quartiere mit insgesamt 20.000 Wohnungen haben wir mit öffentlichen Geldern aufgewertet", erzählt Franco Zinna, Direktor der zuständigen Abteilung bei der Stadt Mailand.

Leerstehende Erdgeschoßlokale

Der neue Plan nimmt außerdem private Bauherren stärker in die Pflicht. Es gilt: Wird eine Fläche ab 15.000 Quadratmetern in Bauland umgewidmet, muss die Hälfte der Fläche der Kommune für sozialen Wohnbau überlassen werden. Auf die Frage, wie die Umsetzung dieser harten Maßnahme bei konkreten Projekten funktioniere, bleibt Zinna jedoch vage: "Im Einzelfall verhandelt der Bauträger mit der Stadt, wie er einen Beitrag leisten kann."

So kann es auch sein, dass statt Sozialwohnungen andere, für die Allgemeinheit notwendige oder sinnvolle Projekte verwirklicht werden, erklärt Zinna, etwa eine Straßenzufahrt, ein Museum oder die Finanzierung sozialer Betreuung in einem Wohnviertel.

Doch auch in diesem Bereich gibt es Probleme, sagt Zinna. Viele Erdgeschoßzonen, für die eigentlich eine Nutzung als Bürgerforum, für kommunale Dienstleistungen oder als Sozialbetreuungsstelle für Senioren, Migranten oder Jugendliche vorgesehen war, stehen leer. "Das scheitert an der Bürokratie. Die Politik in dieser Stadt ist ein Desaster. Die verschiedenen Fachbereiche der Stadtverwaltung arbeiten einfach nicht zusammen, nur so könnten diese Projekte funktionieren."

Belastende Bürokratie

Ähnliche, wenn auch nicht so harte Kritik übt Sturm am österreichischen System. "Durch überbordende Bauvorschriften steigen auch bei uns im gemeinnützigen Sektor die Mieten. Der Durchschnittsbürger, der sich eine Villa baut, muss weniger Vorlagen beachten als der Geringverdiener, der im sozialen Wohnbau lebt. Zudem sind die Grundpreise in Österreich viel zu hoch."

Sein Stellvertreter, Karl Wurm, stimmt zu: "Man muss damit aufhören, überall dieselben Qualitäten zu erwarten. Im sozialen Wohnbau muss es Unterschiede geben." Beide sind froh über den "gesunden Sozialmix" aus Wohnungseigentum, privaten und gewerblichen sowie gemeinnützigen Mietwohnungen in Österreich.

Doch Wurm warnt: "In Italien wird Stadtentwicklung von Investoren, Fonds und Katar betrieben, bei uns ist es noch nicht so weit. Wie andere Großstädte leidet aber auch Wien an budgetären Problemen, und die Tendenz geht in diese Richtung. Klar ist, die Investoren stehen auch vor unserer Tür, und für sie zählt nur die Rendite." (Bernadette Redl aus Mailand, 24.10.2016)