Oliver Hilmes, "Berlin 1936. Sechzehn Tage im August". € 20,- / 296 S. Siedler-Verlag, München 2016

Cover: S. Siedler-Verlag

Berlin, am 15. August 1936: Am vorletzten Tag der Olympischen Sommerspiele setzt eine begeisterte Besucherin aus den USA spontan alles auf eine Karte. Als Hitler im Stadion erscheint, lässt die 43-jährige Carla de Vries aus Kalifornien ihren verdutzten Ehemann einfach sitzen. An den Leibwachen vorbei bahnt sie sich ihren Weg, greift nach dem Kopf des Diktators, zieht ihn zu sich heran – und drückt ihm einen festen Kuss auf die Wange. Das ganze Stadion lacht und applaudiert, und der Diktator selbst reagiert ebenfalls mit Lachen und Applaus. Hitler hatte auch sonst allen Grund zum Lachen: Schon die perfekte Organisation der Spiele mit fast 4000 Teilnehmern aus 49 Nationen überwältigte viele Besucher. In den 20 öffentlichen Berliner Fernsehstuben waren die Sportereignisse nur mit 85-sekündiger Verzögerung zu sehen, also praktisch live. Und Leni Riefenstahl, die in Hitlers Auftrag den offiziellen Olympiafilm drehte, brachte erstmals Unterwasserkameras und Zeitlupen zum Einsatz.

Eindrucksvoll schildert Hilmes, wie sich die Nazis mit ihrer "aufwändigen Charmeoffensive" als weltoffen und friedliebend inszenierten. Mit der Fechterin Helene Meyer durfte eine "Alibijüdin" für Deutschland antreten. Die deutsche Presse bekam Anweisung, den "Rassegedanken" hintanzustellen – so erklärungsbedürftig die Siege des farbigen US-Stars Jesse Owens für "Arier" auch sein mochten. Viele Beobachter, selbst erfahrene Diplomaten, die bis dahin von den Provokationen Hitlers noch beunruhigt waren, hofften nun doch auf einen dauerhaften Frieden.

Berlin im August 1936, das war ein "Sommer der Widersprüche", urteilt Oliver Hilmes: Während die Massen aus aller Welt jubeln durften, errichteten die Nazis keine acht Kilometer vom Berliner Stadtrand entfernt gerade das KZ Sachsenhausen. Um diese Widersprüche einzufangen, hat sich Hilmes von seinem Autorenkollegen Florian Illies einiges abgeguckt: Denn ähnlich wie in dessen Überraschungsbestseller über das Epochenjahr 1913 wird auch in Berlin 1936 Geschichte als aufregendes Zeitmosaik erzählt – als sich Tag für Tag entfaltendes irritierendes Nebeneinander.

Bekanntes steht neben Vergessenem, NS-Größen neben Regimeopfern, Sportler neben Showstars. Berlin 1936, das ist das Weitsprungduell zwischen Jesse Owens und dem Deutschen Luz Long, aber auch der rätselhafte Selbstmord einer Berliner Arbeiterin, das sind opulente Feiern wie jene Hermann Görings, aber auch das heikle Liebesglück der Dichterin Mascha Kaléko, das ist Goebbels' Ehekrise, aber auch die Angst eines zehnjährigen Sinti-Mädchens in einem Lager am Berliner Stadtrand. Das alles erzählt Oliver Hilmes elegant, stets in der Gegenwartsform und ganz nah an seinen Protagonisten – gestützt auf Tagebücher, Autobiografien und sein Einfühlungsvermögen als erfahrener Biograf. Ein großes Leseerlebnis! (Oliver Pfohlmann, 22.10.2016)