"In den digitalen Welten haben wir Echokammern, in denen der Hass Widerhall findet. Dazu gehört bei Facebook oder Twitter, wie wir wissen, auch eine technisch gesteuerte Eskalationsdynamik": Carolin Emcke.

Foto: Fischer-Verlag / Andreas Labes

STANDARD: Frau Emcke, als im Juni bekannt wurde, dass Sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten würden – hat da auch jemand mit Hass reagiert?

Emcke: Nicht dass ich wüsste. Aber ich habe auch nicht nachgeschaut. In den sozialen Netzwerken bin ich nur auf Twitter, da war es bislang für mich sehr aushaltbar. Ich habe außerdem das Gefühl, dass einem beides nicht guttut: Sowohl Lob als auch Abneigung kleben ja an einem fest. Deswegen habe ich versucht, das etwas auszublenden. An so einem Tag meldet sich wirklich jeder Mensch, dem du jemals in der Tanzstunde auf die Füße getreten hast. Das war auch eine lustige Erfahrung. Tags darauf war der Christopher Street Day in Kreuzberg. Das war dann sehr, sehr schön. Da habe ich bemerkt, wie viele sich mitfreuen und durch diese Auszeichnung gemeint fühlen.

STANDARD: Eine lesbische Intellektuelle, die einen der wichtigsten deutschen Preise bekommt. Das ist schon ein Zeichen.

Emcke: Ja. So waren auch die Reaktionen. Und Kreuzberg vermittelte das Gefühl, dass da eine ganze Kultur und ein Viertel mit ausgezeichnet wird.

STANDARD: Am Wochenende darauf widmeten Sie sich in einer "SZ"-Kolumne kontroversen Themen: Das IOC und Russland.

Emcke: Es ist wichtig zu unterscheiden: Es gibt Alarmthemen oder Begriffe, auf die außergewöhnlich stark reagiert wird: Russland zählt dazu, aber auch der Nahe Osten. Das sind Konfliktfelder, die scharfe Kritik von allen Seiten auslösen. Dann gibt es Kritik, die gut und hilfreich ist, weil sie Schwächen oder blinde Flecken in der eigenen Argumentation aufzeigt. Das liest du und denkst: "Oje, so habe ich ja gar nicht darüber nachgedacht". Und dann gibt es Ressentiment und Verachtung. Manchmal schreibt jemand: "Leute wie Sie sind entartet". Gemeint sind in diesem Fall Homosexuelle, mitgemeint sind aber auch oft allgemeiner Intellektuelle. Die Zunahme des antiintellektuellen Ressentiments ist beunruhigend.

STANDARD: In Deutschland zeigt sich der Hass auf zwei Ebenen: dort, wo jemand konkret zu Gewalt greift, dann gibt es aber auch noch diese andere Form, diese immer wieder schockierenden, hemmungslosen Äußerungen vor allem in sozialen Netzwerken.

Emcke: Das ist als Diagnose der Auslöser für mein neues Buch gewesen. Das Gefühl: Da verschiebt sich etwas in der Art der Auseinandersetzung, in Richtung einer entgrenzten, absolut verrohten Form der Kommunikation. Ich habe früher über Rechtsextreme und Skinheads geschrieben. Da wurde ich dann in Leserbriefen beschimpft. Die waren aber immer anonym. Jetzt werden diese Kommentare mit Klarnamen und Absender verschickt.

STANDARD: Die Menschen, die so schreiben, sind nicht mehr allein.

Emcke: Die waren früher auch nicht allein. Die waren nur vorsichtiger. Sie sind vor allem nicht mehr randständig. Natürlich hat es immer ein Segment in der Gesellschaft gegeben, das rassistisch, homophob, antisemitisch war. Aber es gab doch eine Form von Konvention, worüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Das ist jetzt aufgebrochen.

STANDARD: Sie gehören zu einer Generation, für die Deutschland im Grunde immer offener wurde. Die Gesellschaft hat sich modernisiert, Vielfalt ist ein wesentliches Charakteristikum. Nun tauchen wieder Ideen wie jene der Leitkultur auf.

Emcke: Vielfalt ist auf jeden Fall sichtbarer geworden. Und nun müssen wir uns fragen: Ist diese Normalisierung eine Illusion? Haben wir uns da etwas vorgemacht? Es werden wieder neue Grenzen eingezogen, es werden wieder Individuen in Kollektive sortiert und mit Etiketten versehen.

STANDARD: Heute beobachten wir eine Zuspitzung auf den Gegensatz Nation und Islam.

Emcke: Der Nationalismus, den wir zurzeit erleben, scheint auch wie eine Gegenbewegung zum europäischen Einigungsprozess. Es wird ein neues Anderes gesucht – um die Unsicherheit darüber, was das Eigene sein soll und kann und darf, zu überlagern. Dafür werden dann Muslime instrumentalisiert. Als Ersatz. Insofern ist es wichtig zu differenzieren: zwischen der sozialen oder ökonomischen Verunsicherung mancher, für die es durchaus nachvollziehbare Gründe gibt, und der Angst, die nur vorgeschoben wird, um Menschenverachtung harmloser erscheinen zu lassen.

STANDARD: Die Generation, von der ich sprach, wuchs noch mit einer im weitesten Sinn bürgerlichen Öffentlichkeit auf: Fernsehen, Zeitungen, Gespräche, Werbung. Die Polarisierung hat eine mediale, auch technologische Dimension.

Emcke: Definitiv. In den digitalen Welten haben wir Echokammern, in denen der Hass Widerhall findet. Dazu gehört bei Facebook oder Twitter, wie wir wissen, auch eine technisch gesteuerte Eskalationsdynamik. Die gemeinsam geteilte Öffentlichkeit wird kleiner. Die Orte, an denen wir darüber miteinander sprechen, wie wir leben wollen, was für eine Gesellschaft wir wollen, die sind unsichtbarer geworden. Im Moment erlebe ich es eigentlich am stärksten und berührendsten in den Theatern. Ob in Gesprächsrunden dort oder in den Theaterstücken, diese Momente, in denen noch miteinander gedacht wird, in der eine andere Position einen überzeugt, in der einem ein anderes Leben nahegebracht wird.

STANDARD: Der Begriff der "Lügenpresse" macht die Runde. Fühlen Sie sich von den damit gemeinten Medien ausreichend informiert?

Emcke: Na ja ... (lacht) Ich bin ja selbst Publizistin. Aber wenn ich als Leserin antworten soll: Ja. Eindeutig. Das heißt nicht, dass ich mich nicht den ganzen Tag aufrege. Es gibt mal bessere, mal schlechtere Texte. Manchmal irritiert mich das Tempo, das heutzutage erwartet wird. Jedes Zögern wird da als Manipulation oder Tabuisierung denunziert. Anstatt dass sauberes Recherchieren, übrigens auch ernsthaftes Nachdenken und Lesen, einfach Zeit kostet. Die Kritik finde ich deswegen auch perfid, denn sie drängt Journalistinnen und Journalisten dazu, ihre Arbeit eiliger und womöglich fahrlässiger zu machen.

STANDARD: Wenn man die Panama Papers als Beispiel nimmt: Bleibt da nicht doch so etwas wie ein Unbehagen, dass das nur Tropfen auf glühend heiße Steine sind?

Emcke: Die Panama Papers halte ich für ein großartiges Beispiel. Denn da haben sich nationale Medien so organisiert, dass sie eine globale Wirklichkeit, die ihnen die ganze Zeit überlegen ist, erfassen können. Es war spektakulär, wie die Kollegen von der SZ durch die internationale Vernetzung und Koordination ja nicht nur das Wissen und die Fakten verbreitet und vertieft haben, sondern durch die gleichzeitige Publikation an all diesen Orten weltweit hatte die Veröffentlichung auch eine ganz andere Hebelwirkung. Ich sehe nur so eine Chance, den global vernetzten Machtstrukturen beizukommen. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen: Das setzt eben auch klassische Verlage und stabile Institutionen voraus, die auch mal zwei Reporter für ein ganzes Jahr abstellen, damit sie eine solche Datenmenge analysieren können.

STANDARD: Sie haben früher vor allem als Reporterin gearbeitet. Vermissen Sie das?

Emcke: Total. Meine letzte große Reportage habe ich 2014 gemacht: sechs Monate in einer Erstaufnahme für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt. Danach war ich zwei Jahre vor allem am Schreibtisch.

STANDARD: Fehlt dieser Kontakt auch intellektuell?

Emcke: Nicht nur intellektuell. Mir fehlen die Reisen, die Gerüche, die Gewürze, mir fehlen die Menschen, denen man auf diesen Reisen begegnet. Mir fehlt diese Herausforderung, immer wieder neu sich hineinfinden zu müssen in eine andere Landschaft, in andere Erfahrungen. Als ich anfing, die Kolumne für die Süddeutsche Zeitung zu schreiben, war dies erst einmal ein Versuch, ein anderes Format zu wagen: diese eher nachdenklichen Miniaturen. Ich hatte allerdings auch Glück, dass in den letzten zwei Jahren Themen besonders virulent waren, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

STANDARD: Gibt es eine Pädagogik gegen das Ressentiment? Viele Linke sind ja in ihrer Wortwahl nicht gerade zimperlich. Sie sprechen von "Abschaum" und meinen damit pauschal die Wähler von Norbert Hofer in Österreich oder der AfD in Deutschland. Andere fordern, man müsste "die Ängste ernst nehmen".

Emcke: Von "Abschaum" zu reden liegt mir fern. Ich halte nichts davon, mir die Sprache der Verachtung, die zurzeit so en vogue ist, zu eigen zu machen. Das Prinzip sollte sein, Handlungen zu kritisieren und nicht Personen. Denn ich will nicht Menschen dämonisieren, sondern eine Position, die bestimmte Individuen oder Gruppen ausschließt und stigmatisiert, kritisieren. Aber ich bin wie viele andere auch unsicher, wie man mit denen, deren Positionen sich jenseits des Grundgesetzes bewegen, umgehen soll.

STANDARD: Sie zitieren in Ihrem Buch Alexander Kluge: Für Gefühle gibt es keinen Realitätstest. Ist das nicht sehr pessimistisch?

Emcke: Das ist ein lustiger Fehler. Kluge sagt: "Gefühle glauben nicht an das Realitätsprinzip". Das ist etwas anderes. Natürlich glaubt die Liebe, die geliebte Person sei der vollkommenste Mensch auf Erden. Zurzeit erleben wir im öffentlichen Diskurs eine eigentümliche naive Aufwertung von Affekten – als seien Gefühle per se angemessen, als käme Gefühlen per se eine unantastbare Legitimität zu. Aber jedes Kind lernt, dass nicht alle Gefühle gleich sinnvoll oder opportun sind. Daran sollte erinnert werden, wenn zurzeit bestimmte politische Positionen mit Affekten rhetorisch verniedlicht werden. Auch bei der sogenannten Sorge lässt sich ja prüfen: Worauf bezieht sie sich? Ist das verhältnismäßig?

STANDARD: Gab es in Ihrer Bildungsgeschichte prägende Momente?

Emcke: Ein Leben, wie ich es heute lebe, konnte ich mir als Möglichkeit lange gar nicht vorstellen. Mein Vater hatte keinen richtigen Schulabschluss. Er fand ein Kind wie mich eher eigen, um es sehr diplomatisch zu formulieren. Ich weiß noch sehr genau, dass ich mit 17 eine Filmproduzentin kennenlernte, deren Wohnung voll mit Büchern war. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass diese Bücher nicht einfach eine private Passion waren, sondern dass sich mit dieser Passion auch eventuell ein Beruf verbinden könnte. Dass sich lesend und schreibend auch die Miete finanzieren ließe. Das war ein erstaunlicher Moment für mich.

STANDARD: In Ihrem autobiografischen Buch "Wie wir begehren" taucht ein Mitschüler auf, den Sie Daniel nennen und der sich in jungen Jahren das Leben nimmt. Daran wird erkennbar, wie gefährdet jede auch gelingende Emanzipation ist.

Emcke: Ja. Das treibt mich selbst auch immer noch um. Diese fragile Freiheit. Aus meiner Schulzeit in den 80er-Jahren habe ich vor allem die Tabus in Erinnerung: das Beschweigen von Sexualität, das eingeschränkte Angebot von Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit. Das eigene Begehren war schwer zu deuten, weil es dafür kaum (Vor-)Bilder gab.

STANDARD: Wenn ich das heute lese, denke ich an den Attentäter von Orlando, von dem das Gerücht ging, er wäre aus verdrängter Homosexualität zum Massenmörder geworden. Das traf wohl nicht zu. Aber die Frage ist doch bedrängend: Wie wird aus einem Selbstmordkandidaten ein Selbstmordattentäter oder ein Amokläufer?

Emcke: Das müssen Psychologen beantworten. Ich bin da keine Expertin. Als ganz normale Zuschauerin kann ich nur sagen: Es gab diese Aufnahme von dem Selbstmordattentäter in München mit der Waffe in der Hand. Als ich das sah, war mein erster, reflexhafter Gedanke: "Der hat ja X-Beine. Der wurde in der Schule bestimmt gemobbt." Aber das ist natürlich weder Erklärung noch Rechtfertigung. Das, was nachdenklich stimmt, ist allein die Frage nach der Beziehung von eigener Gewalterfahrung (in der Familie, im sozialen Umfeld, in der Schule) zur Gewalt gegen andere.

STANDARD: Im Grunde leben wir in einer sehr friedlichen Gesellschaft, nur kommunizieren wir die Ausnahmen so stark. Brauchen wir so etwas wie Gelassenheitsübungen?

Emcke: So einfach ist das nicht, dass jede/-r Einzelne sich im Angesicht des IS einfach autosuggestiv beruhigen sollte. Da muss man schon schauen: Was sind das für Prozesse der Radikalisierung? Was für ideologische Erzählungen gibt es? Was für Illusionen werden angeboten? Der IS ist eine gespenstische Organisation von erschreckender Sogkraft. Die europäischen Anhänger kommen häufig aus Leben, die ihnen selber nichts wert sind. Die Frage müssen wir uns schon stellen: Wieso werden die in Europa so radikalisiert? Warum ist ihnen ihr Leben nichts wert? Wie kann es sein, dass das der Dschihadismus als ein attraktives Angebot erscheint?

STANDARD: Wenn man vom offiziellen Islam wünscht, dass die terroristischen Akte deutlicher verurteilt würden, betreibt man da schon ein wenig das Geschäft des Ressentiments?

Emcke: Die Forderung ist grundsätzlich legitim, aber dann darf man nicht verschweigen, dass die Vertreter des Islam sich die ganze Zeit in aller Deutlichkeit vom IS nicht nur distanzieren, sondern ihn als "unislamisch" verurteilt haben. Es gibt eine große Erklärung von 150 muslimischen Geistlichen aus der ganzen Welt, die den IS unmissverständlich abgelehnt haben. Das wird nur leider medial wenig kommuniziert. Es sollte auch erklärt werden, dass sich viele dieser jugendlichen Dschihadisten im Verlauf ihrer Radikalisierung mit ihren lokalen muslimischen Gemeinden überworfen haben. Insofern ist diese Gleichsetzung von muslimischen Gemeinden und salafistischem Dschihadismus ein unzulässiger Kurzschluss. Die Diskussion darüber muss genauer werden.

STANDARD: Eine der Grunderfahrungen in der Gegenwart ist Komplexität. Wie findet man den richtigen Ansatz für ein konkretes Engagement?

Emcke: Ich würde überhaupt nicht so denken. Es gibt nicht nur einen Hebel. Ich finde das vollkommen gleich, wie man sich einbringt und womit man hilft. Manche haben Zeit, manche haben Geld, manche haben ein Talent. Ob das direkt bei einem selber in der Straße ist oder ob man sich um kranke Eltern kümmert – es gibt keine Hierarchie des Leids und auch keine Hierarchie der Hilfe. Was jemand kann, was jemand aushält, das ist immer speziell.

STANDARD: Worauf könnte man einen Optimismus gründen, der nicht naiv ist?

Emcke: Ich denke, das letzte Jahr hat doch auch genug Anlass für Optimismus geliefert. Wie viele Menschen sich wie selbstverständlich engagiert haben. Auch Menschen, die jetzt nicht aus dem politaktivistischen Umfeld stammen, alte und junge, gutsituierte und Menschen mit eher sozial schwachem Hintergrund – sie alle haben sich in den ihnen gegebenen Möglichkeiten eingesetzt. Das war und ist auch berührend. Reicht das, um gegen Hass und Ressentiment aufzubegehren? Vielleicht nicht allein. Aber es ist mehr als eine Geste. Meine Grundhaltung hat aber auch mit Dissidenz zu tun. Ich will mich nicht kleinkriegen lassen vom Hass. (Bert Rebhandl, Album, 22.10.2016)