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Das Ehepaar Erdoğan vor Anhängern in Bursa.

Foto: AP/Kayhan Ozer

"Halbe Sachen" gibt es nicht mit der AKP, so hat der türkische Regierungschef über die Partei gesagt, die er formell führt. "Was die AKP macht, macht sie ganz", erklärte Binali Yildirim bei der jährlichen Klausurtagung der konservativ-religiösen Partei in Afyon, in Westanatolien am vergangenen Wochenende. Yildirim meinte damit auch das Präsidialsystem, das nun immer näher rückt. Für einen Regierungschef ist darin kein Platz mehr, so wurde Yildirim verstanden. Ein nur halb präsidiales System wie in Frankreich soll es für Tayyip Erdoğan nicht sein. Der mächtigste Mann der Türkei, der das Land derzeit mit der Vollmacht des Ausnahmezustands regiert, soll alles bekommen.

Noch ist die Türkei laut Verfassung eine parlamentarische Demokratie. Doch seit der ersten Direktwahl Erdoğans zum Staatschef im August 2014 und der Bestellung erst von Ahmet Davutoğlu und dann Binali Yildirims zum Regierungschef hat sich die Macht zum Präsidenten verschoben. Seine Partei, die er laut Verfassung nicht führen darf, bestimmt mit absoluter Mehrheit im Parlament. Die Regierung tritt unter seinem Vorsitz im Präsidentenpalast zusammen. Die Minister und deren Ressorts werden durch Parallelstrukturen im Palast überwacht. In der Praxis habe die Türkei schon ein Präsidialsystem, erklärte Yildirim deshalb vergangenen Sommer, noch vor dem Juli-Putsch, dem Volk.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn erstens zieht sich Erdoğan ständig den Vorwurf des Verfassungsbruchs zu. Zweitens steht und fällt seine Herrschaft mit der Mehrheit im Parlament: Als die AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verlor, drängte Erdoğan auf vorgezogene Wahlen fünf Monate später, um das Ergebnis zu korrigieren. Hätten sich die Oppositionsparteien damals auf eine Koalition verständigt, wäre Erdoğans Macht beschnitten gewesen. Eine Kohabitation zwischen Präsident und Premier aus verschiedenen politischen Lagern, wie sie in Frankreich manchmal der Fall ist, wäre die Folge gewesen.

Präsidialsystem ohne Premier

In Afyonkarahisar beriet die Führung der AKP über einen Verfassungsentwurf, den die Partei wohl im Dezember ins Parlament einbringen wird. Dabei schien es lediglich um die Zustimmung zur Option eines Präsidialsystems ohne Premier zu gehen und um die nächsten Schritte auf dem Weg dahin. Die AKP will ihren Entwurf, der wohl weniger als zwei Dutzend neue oder geänderte Verfassungsartikel enthält, zunächst den Sozialdemokraten von der größten Oppositionspartei CHP und den Rechtsnationalisten der MHP vorlegen. Die prokurdische Minderheitenpartei HDP – sie hat mehr Sitze im Parlament als die MHP – schließt die Regierung von ihren Konsultationen aus. Premier Yildirim wird bei seiner wöchentlichen Rede vor der Fraktion am Dienstag wohl weitere Angaben machen.

Die Verfassungsänderung könnte im Jänner oder Februar nächsten Jahres zur Abstimmung im Parlament kommen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: eine direkte Annahme mit den Stimmen von 367 der 550 Abgeordneten – dies gilt als ausgeschlossen – oder eine Unterstützung der Verfassungsänderung mit wenigstens drei Fünftel oder 330 Stimmen; der Antrag könnte dann zum Referendum gemacht werden. April 2017 wurde von Regierungsmitgliedern bereits als Termin genannt. Dieser Weg ist wahrscheinlich geworden, seit der Vorsitzende der MHP, Devlet Bahçeli, seine Zustimmung für einen Volksentscheid erklärte, auch wenn er weiterhin angibt, für den Erhalt der parlamentarischen Demokratie zu sein. Die AKP hat im Parlament 317 Sitze, die MHP 40.

Der Afyon-Vorschlag der AKP ist noch nicht publikgemacht worden, scheint sich aber nicht sehr von einem früheren Entwurf der Parteiführung für ein Präsidialsystem aus dem Jahr 2012 zu unterscheiden. Auch damals war nur ein Staatspräsident vorgesehen, der zusammen mit dem Parlament für fünf Jahre gewählt und seine eigene Regierung bestimmen würde. Das Parlament wäre schwach. Gesetze kann der Präsident zurückschicken; eine Dreifünftelmehrheit wäre nötig, um ihn zu überstimmen. Dieses "türkische Präsidialsystem" würde sich also nicht nur vom französischen, sondern auch vom US-amerikanischen Verfassungssystem durch die kaum beschränkte Macht des Staatschefs unterscheiden – mit einem Senat oder Repräsentantenhaus, das ihn kontrollieren und in die Schranken weisen könnte, müsste sich Erdoğan nicht abgeben.

Knapper Volksentscheid

Zwei Hürden gibt es gleichwohl für Erdoğans Verfassung. Zum einen ist nicht ausgemacht, dass der Volksentscheid auch wirklich für die Präsidialverfassung ausgeht. Die Chancen scheinen jetzt, nach dem gescheiterten Putsch und bei dem wohl noch größeren Ansehen Erdoğans in der Türkei, deutlich besser. Dennoch errechnete eines der wichtigeren Umfrageinstitute (Andy-Ar, es wird dem Regierungslager zugeordnet) 42 Prozent, bei abnehmenden Anteil unentschlossener Wähler. Die Gegner einer Verfassungsänderung für Erdoğan liegen demnach erstmals zurück bei 38 bis 40 Prozent. Die Partie scheint also noch offen, aber mit Vorteilen für die Regierung.

Zum anderen ist unklar, wie es nach der Annahme des Präsidialsystems weitergeht: Wird es eine Übergangszeit geben bis 2019 zum Ende des laufenden Mandats von Erdoğan? Oder soll die Verfassung sofort in Kraft treten? Für einen solchen Schnitt wären wohl Neuwahlen für Parlament und Präsident noch in der ersten Hälfte von 2017 notwendig. Diese gleichzeitigen Wahlen alle fünf Jahre standen schließlich schon im AKP-Vorschlag. (Markus Bernath, 24.10.2016)