Proteste gegen die beiden Handelsabkommen Mitte September in Brüssel.

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Das Bild, das Europa derzeit abgibt, ist erbärmlich. In der Flüchtlingspolitik heillos zerstritten, durch den bevorstehenden Austritt der Briten massivst geschwächt und nun nicht einmal in der Lage, ein Handels- und Investitionsabkommen mit Kanada in trockene Tücher zu bekommen. Kein Wunder, dass alle Welt über diese EU den Kopf schüttelt. Daher erscheint es konsequent, wenn überzeugte Europäer wie Christoph Leitl die Erpressbarkeit der Union durch einzelne Mitgliedstaaten – im Falle von Ceta sogar durch Regionen – mit einer Aufwertung der EU-Kommission zu einer europäischen Regierung beseitigen wollen. Doch gut gemeint ist in dieser Angelegenheit das Gegenteil von gut. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

Keine Frage: Eine Vertiefung der Union könnte die derzeitige Lähmung Europas beenden. Das beste Beispiel dafür sind die quälenden Treffen der Staats- und Regierungschefs. Alle paar Monate treffen sich die EU-Granden, um hernach begründen zu müssen, warum in der einen oder anderen Angelegenheit nichts weitergegangen ist. Würden die Mitgliedstaaten auf die Besetzung einer zweiten Kammer zurechtgestutzt, hätte die EU-Kommission freie Hand. Zu einer echten europäischen Regierung aufgewertet, würde sie den Takt vorgeben. Mit einer gleichzeitigen Aufwertung des Europäischen Parlaments könnte die Union auch ein immer wieder beklagtes Problem aus der Welt schaffen: das Demokratiedefizit.

In der Praxis hieße das: Lästige Widersacher, die in wechselnden Koalitionen Brüsseler Pläne vereiteln, wären leichter zu überwinden. Mehrheitsentscheidungen stünden in diesen Vereinigten Staaten von Europa auf der Tagesordnung. Vetorechte – seien sie gesetzlich verbindlich oder auch nur freiwillig zugestanden – würden stark zurückgedrängt.

Doch Leitls Vorstoß, der ja schon seit Jahrzehnten von Integrationsbefürwortern immer wieder artikuliert wurde, kommt zur Unzeit. Der entscheidende Haken: Eine derart weitreichende Vertiefung hätte verschwindenden Rückhalt in der Bevölkerung. Der Wirtschaftskammer-Präsident redet einer Vergemeinschaftung in einer Phase das Wort, die von aufkeimenden Nationalismen geprägt ist. Der Brexit stellt da nur einen von vielen Warnschüssen dar. Rasch verklungen ist beispielsweise die Ablehnung des EU-Ukraine-Abkommens in den Niederlanden im April dieses Jahres. Die Stimmung in Frankreich, Italien und Österreich betreffend die EU bedarf ohnehin keiner näheren Erläuterung. Und in Osteuropa wird fast jeder Vorstoß, der in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreift, schroff abgeschmettert.

Um es deutlich zu sagen: In der aktuellen Situation sollte die Union eher Ballast abwerfen, um nicht abzustürzen. Sich neue Lasten aufzubürden, dafür fehlt dieser EU schlicht die Kraft. Gefragt ist jetzt weniger Einmischung und keine Ausweitung der EU-Kompetenzen. Im Kern sollte es darum gehen, die Pfeiler des Binnenmarktes einigermaßen unbeschadet zu erhalten. Sonst droht das ganze Haus zusammenzubrechen. Alles andere wäre eine Steilvorlage für rechte wie linke Populisten, die erfolgreich jede echte oder vermeintliche Fehlentwicklung der EU unterjubeln.

Europa hätte eine tiefere Integration bitter notwendig, doch dafür fehlt der Rückhalt in der Bevölkerung. Über das Knie brechen lässt sich Europa schlicht und ergreifend nicht. (Andreas Schnauder, 24.10.2016)