Das Hakani-Tal auf Nuku Hiva, der Hauptinsel der Marquesas, wirkt wie unentdecktes Land. Herman Melville war aber schon da.

Die Bucht von Hatiheu war Lieblingsplatz von Robert Louis Stevenson. Direkt dahinter liegt der Hauptort der Insel Nuku Hiva.

Foto: Marc Vorsatz

Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine bedingungslose Liebe, entkoppelt von Zeit und Raum, wie sie in dieser Intensität vielleicht nur Künstlerseelen empfinden können. Als Jack London, der Poet des hohen Nordens, einst vor Nuku Hiva in der Südsee von Bord ging, ergriff ihn eine wahrhaft romantische Euphorie. "Man fühlt es fast wie einen Schmerz, so vollkommen ist die Schönheit." Das war vor gut 100 Jahren, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Es scheint kaum möglich, sich dem Zauber des Eilandes zu entziehen.

Nuku Hiva gehört zu der vulkanischen Inselgruppe der Marquesas. Nur ein paar verlorene Nadelspitzen eines unterseeischen Gebirges in der Endlosigkeit des Südpazifiks. Aber was für welche! 14 kleine Basaltinseln, eine beeindruckender als die andere, mit religiösen Kultstätten einer untergegangenen Maori-Kultur in fruchtbaren tropischen Tälern, mit Bergnebelwäldern und kargen Gebirgskämmen, die so gar nicht ins Klischee des Südseeparadieses mit türkisfarbenen Lagunen und palmengesäumten Traumstränden passen. Die aber trotzdem – oder gerade deshalb – von je her Entdecker, Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Musiker in ihren Bann zogen. James Cook, Robert Louis Stevenson, Herman Melville, Jack London, Thor Heyerdahl, Jacques Brel, um nur einige zu nennen. Und natürlich Paul Gauguin, der wie kein anderer den Mythos Südsee prägte und in die Welt trug, und der 1903 auf der Nachbarinsel Hiva Oa in völliger Verarmung starb.

Lavatürme, die aus dem Dschungelkleid ragen

Bis heute gibt es viele gute Gründe, die Marquesas zu besuchen. Da ist nur eine Hürde: Der Archipel gilt als das am weitesten von jedem Festland entfernte bewohnte Fleckchen Erde. Selbst von Tahiti, dem politischen und wirtschaftlichen Zentrum Französisch-Polynesiens und damit auch der Marquesas, sind es 1.500 Kilometer zur entlegenen Provinz. Die angenehmste Art der Anreise ist die Fahrt auf der Aranui 5. Das kombinierte Passagier- und Frachtschiff läuft die isolierte Inselgruppe alle drei Wochen an und beliefert die Bewohner des EU-Außenpostens mit allen materiellen Errungenschaften der modernen westlichen Zivilisation, von der Zahnpasta über Coca Cola bis hin zum Bagger und Diesel für die Tankstellen.

Bei einer Inselexkursion erkunden die Passagiere die Bucht von Hatiheu, die Robert Louis Stevenson im Jahre 1888, also kurz vor Jack London, zum Schreiben inspirierte. Die er seinen Lieblingsplatz im Schatten des mächtigen, 1.224 Meter hohen Mount Tekao nannte. Kein Wunder, verströmt die Bucht doch eine geheimnisvolle Magie für Menschen mit einem feinen ästhetischen Gespür. Dunkelbraun ist der schmale Strand, meterdicke Basaltbrocken schützen das gleichnamige Dorf seit Menschengedenken vor der starken Brandung, denn schützende Korallenriffe gibt es nirgendwo im Archipel. Markant sind die vier steil aufragenden Lavatürme, die aus einem grünen Dschungelkleid ragen. Auf dem nahegelegensten thront die weiße Statue der Jungfrau Maria. Seit 1872 ist sie Schutzpatronin der Gemeinde, deren gesellschaftliches und soziales Zentrum neben der Kirche das Restaurant Chez Yvonne Katupa ist.

Frisch aus dem Erdofen

Heute herrscht Hochbetrieb bei der charismatischen Yvonne, die bereits in ihren Neunzigern ist. Wie alle drei Wochen, wenn das Versorgungsschiff vor Anker geht und bis zu 254 Gäste auf Exkursion schickt. Gilt es doch, die hungrigen Mäuler aus Neuseeland, Australien, Amerika und Europa zu stopfen: mit drei Spanferkeln, Yamswurzeln und schmackhaftem Gemüse aus dem Umu, dem traditionellen Erdofen. Zwei Stunden gart das in Palmwedeln gewickelte Essen, gut geschützt in einem Metallkorb, auf schwacher Glut im Boden. Das Ergebnis? Leicht rauchig und sehr schmackhaft.

Beim Besuch des Kunstmarktes von Taiohae, rituellen Haka-Kriegstanzperformances im Dschungel und Besichtigung der Tikis, der steinernen Götterskulpturen aus voreuropäischer Zeit, vergeht der Landgang wie im Flug. Dann noch schnell ein Abstecher vorbei an imposanten Wasserfällen ins fruchtbare Taipi-Tal, wo Herman Melville 1841 mehrere Wochen Unterschlupf fand, nachdem er von einem Walfangschiff wegen unzumutbarer Bedingungen desertierte. Seine Flucht verarbeitete der amerikanische Schriftsteller literarisch sowohl in seinem Roman "Moby Dick" als auch in seiner Erzählung "Taipi".

Eine Höhepunkt der Kreuzfahrt

Auf der Aranui herrscht reger Betrieb beim Löschen der Ladung. Im Gegenzug wird frisches Obst für die Passagiere, die Mannschaft und fürs ferne Tahiti, dem Ausgangs- und Endpunkt der Reise, gebunkert – vor allem aber Kopra als wichtigstes Exportgut für Übersee. Das daraus gewonnene hochwertige Kokosöl findet Verwendung in der französischen Kosmetikindustrie. Paris subventioniert das weiße Fruchtfleisch der Kokosnuss mit dem Dreifachen des Weltmarktpreises. Im hochproduktiven EU-Binnenmarkt hätten die Insulaner ansonsten keinerlei Chance. So soll der soziale Friede auf den Inseln gewahrt und eine Abwanderung verhindert werden.

Am Abend an Bord erklärt der Dozent Eriki Marchand interessierten Gästen die polynesische Kultur der Gegenwart und Vergangenheit. Dem Einwohner der Marquesas ist eine gewisse Verbitterung über die Europäisierung seiner Heimat anzumerken. Verständlich. "Auf einigen Inseln starben bis zu 90 Prozent der Bewohner durch eingeschleppte Krankheiten wie Grippe oder Masern. Und mit ihnen ein Stück unwiederbringlicher Kultur. Importierte invasive Pflanzen wie die brasilianische Miconia und Tiere wie Ziegen und Ratten taten und tun ihr Übriges", doziert Eriki. "Allein in Hikokua nahe Hatiheu lebten einst 3.500 Menschen. Das sind weit mehr als die Gesamtbevölkerung von ganz Nuku Hiva heute. Von den kulturellen und religiösen Folgen der Kolonialisierung ganz zu schweigen." Mit seinen nunmehr 2.600 Einwohnern und einer Fläche von 17 mal 25 Kilometern ist Nuku Hiva die größte und bevölkerungsreichste Insel der Marquesas und sicher einer der Höhepunkte der Kreuzfahrt.

Augenleuchten

Vier Tage zuvor legte die Aranui in Tahitis Hauptstadt Papeete ab. Mit voller Fracht und gut 200 Urlaubern an Bord verließ sie die Gewässer der Gesellschaftsinseln und nahm Kurs auf den Tuamoto Archipel, um am nächsten Morgen vor dem flachen Korallenatoll Takapoto zu ankern. Die türkis leuchtende, palmengesäumte Lagune ist so groß, dass man das gegenüberliegende Ende nur erahnen kann. Nach einem ausgedehnten Bad im badewannenwarmen Wasser bereiten die Schiffsköche ein Barbecue am Strand mit fangfrischem Fisch und allerlei tropischen Köstlichkeiten. Ein Südseetraum wird für viele Besucher wahr, man sieht dieses Leuchten in ihren Augen.

Nach einem entspannenden Tag auf See mit interessanten Vorträgen in legerer Atmosphäre für die Reisenden und einer Feuerübung für die Crew wirft die Aranui am Tag vier in den marquesischen Gewässern vor Nuku Hiva die Anker, um an den Folgetagen die bezaubernden Nachbarinseln Ua Pou und Hiva Oa anzusteuern. Der Besuch des Cimetière Calvaire auf Hiva Oa mit den Gräbern des Malers Paul Gauguin und des Chansonniers Jacques Brel ist für so manchen europäischen Reisenden der eigentliche Grund für die 19.000 Kilometer weite Anreise über Paris, Los Angeles und Papeete.

Vollkommene Schönheit

Am Tag sieben, genau zur Halbzeit dieser Schiffsreise, deren Luxus ganz bestimmt nicht die Kabinen, sondern die angesteuerten Ziele darstellen, ankert die Aranui vor Fatu Hiva in der vielleicht aufregendsten Bucht des gesamten Archipels: Das Hanavave-Tal liegt zauberhaft im Schoß einer steil aufragenden Gebirgskette, Palmen und tropisches Grün säumen dieses Fleckchen Erde, das selbst in der Südsee seinesgleichen sucht. Wieder so ein Platz, wo man die vollkommene Schönheit fast wie einen Schmerz spüren kann.

Bereits schmerzerprobt tritt man dann über Tahuata, Ua Huka, Ua Pou, Rangiroa und Bora Bora im Kielwasser der Bounty die Heimreise nach Tahiti an. Wer jetzt hierbleiben will, muss wohl meutern. (Marc Vorsatz, RONDO, 12.11.2016)