HIV-infizierte T-Zelle unter dem Rasterelektronenmikroskop.

Foto: NIH/NIAID

Tucson/Wien – Das gehäufte Auftreten einer seltenen Lungenentzündung bei homosexuellen Männern in US-amerikanischen Großstädten führte Anfang der 1980er-Jahre zur Entdeckung von Aids. An den Folgen der durch das HI-Virus ausgelösten Immunschwäche starben seit Beginn der Dokumentation weltweit Abermillionen Menschen, allein 2015 waren es 1,5 Millionen.

Dass es in den USA schon vor der Entdeckung zu HIV-Infektionen kam, ist längst gesichert. Doch ab wann genau und wie die Verbreitungswege des Virus in Nordamerika verliefen, war bisher unklar. Nun legen Forscher in "Nature" eine umfangreiche Rekonstruktion dieser Frühphase der Aids-Pandemie vor: Ihnen gelang es mit einer neuen Technik, aus mehr als 2000 Blutserumproben aus den Jahren 1978 und 1979 acht HIV-Genome zu entschlüsseln.

Frühe genetische Diversität

Das Ergebnis: HIV-1, dessen Untergruppe M für mehr als 90 Prozent der weltweiten Infektionen verantwortlich ist, wies bereits Ende der 1970er eine ähnlich hohe genetische Vielfalt auf wie heute. Weitere Analysen ergaben, dass das Virus, das ursprünglich aus Afrika über die Karibik nach Nordamerika gelangt war, wahrscheinlich im Jahr 1970 zunächst New York City erreichte. "Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Infektionen in Kalifornien, die später zur Entdeckung von Aids führten, Ableger aus New York City waren", sagte Michael Worobey (University of Arizona).

Die Studie räumt zudem einmal mehr mit der Mär vom "Patient Zero" auf: Die falsche Behauptung, ein homosexueller frankokanadischer Flugbegleiter habe die Schlüsselrolle bei der Verbreitung von HIV in Nordamerika gespielt, hält sich medial bis heute. Wie die Forscher zeigen konnten, war er Anfang der 1980er jedoch lediglich einer unter vielen Tausenden HIV-Infizierten in den USA. Die Analyse seines HIV-Genoms bestätigte zudem, dass es sich um einen zu dieser Zeit bereits verbreiteten Stamm und nicht um die nordamerikanische "Urform" handelte. Diese muss den Kontinent schon gut zehn Jahre früher erreicht haben.

Missverständnisse und falsche Darstellungen

Vor seinem Tod 1984 hatte der junge Mann mit umfangreichen persönlichen Angaben zur Erforschung von Aids beigetragen. Zu seiner Diskreditierung dürften neben seiner vielen beruflich bedingten Reisen einige Faktoren beigetragen haben: So wurde er in gesundheitsbehördlichen Dokumenten als "Case 057" geführt, aber einige Male als Patient O (O stand für "Out(side)-of-California) bezeichnet. Aus dem Großbuchstaben O wurde in der Literatur mehrfach eine Null – inklusive der Fehlinterpretation, es handle sich um Patient 0, also um jene Person, von der die Krankheitsausbreitung ihren Ausgang nahm.

Der 1987 erschienene und später verfilmte Bestseller "... and the Band played on" des US-Journalisten Randy Shilts übernahm den Fehler (womöglich wissentlich), nannte den vollen Namen des Flugbegleiters und zeichnete das Bild eines rücksichts- und gewissenlosen Schuldigen. "Er ist einer der am meisten dämonisierten Patienten überhaupt und steht in einer langen Reihe mit Personen und Gruppen, denen im Laufe der Geschichte die bösartige und mutwillige Verbreitung von Krankheiten unterstellt wurde", sagte der Cambridge-Historiker Richard McKay, Koautor der Studie.

"Hoffentlich trägt unsere Arbeit dazu bei, dass Forscher, Journalisten und die Öffentlichkeit künftig innehalten, bevor sie den Begriff "Patient 0" verwenden. Er hat eine belastete Geschichte, trägt viele Bedeutungen und drückt nur selten das eigentlich Beabsichtigte aus." (David Rennert, 26.10.2016)