Erika Jaschek* liegt von nun an in Reihe 26, 180 Zentimeter tief im Lössboden. Viel mehr erfährt die Nachwelt nicht über sie. Auf dem Totenschein steht ihr Geburtsdatum – ein Oktoberkind; 76 Jahre alt ist sie geworden. Außerdem ist sie schwer. Um ihren Sarg aus dem Transportgestell in das frisch ausgehobene Grab zu tragen, packen sechs Männer an.

Die Toten werden ärmer

Vier Bestatter und zwei Totengräber. "Unsere Verstorbenen werden immer schwerer", sagt Dietmar Groschner, einer von ihnen. Und sie werden ärmer: Im vergangenen Jahr hat die Stadt Wien 900 Menschen bei einer sogenannten "Bestattung auf behördliche Anordnung" unter die Erde gebracht. 2005 waren es knapp 800 Personen. Florian Keusch, Sprecher der Bestattung Wien, erklärt sich die steigende Zahl mit dem schwächer werdenden sozialen Zusammenhalt der Stadtbevölkerung. Zu vielen "Armenbegräbnissen" kommt es auch mangels Vorsorge.

Das "Armengrab" mit Holztafel und Messingschild.
Foto: Maria von Usslar

Weil es immer noch ein zu großes Tabu ist, das eigene Ableben zu planen, hat die Bestattung Wien vor einem Jahr eine Kampagne gestartet: "Abschied leben" soll Menschen dazu bringen, vorsorglich mit dem Tod umzugehen und mit ihren Verwandten über deren Vorstellungen von einer Bestattung ins Gespräch zu kommen.

Eine halbe Stunde zuvor in der Kühlhalle: Groschner ist der Letzte, der Frau Jaschek sieht. Bevor sie in einem cremefarbenen Nachthemd aus Seide auf einem gleichfarbigen Sargbett eines hellen und schlichten Fichtenholzsargs, Modell "Simmering", in die Aufbahrungshalle gebracht wird, kontrolliert er, ob Totenschein und Zettel am Fuß denselben Namen tragen, und entscheidet, ob Angehörigen der Anblick des Leichnams zumutbar ist.

Ob ein Sarg zur Leichenschau geöffnet werden sollte, hängt von dem Zustand des Toten ab. Denn Frau Jaschek ist das, was die Kollegen vom Abholdienst die Spitze des Eisbergs nennen. Zu ihrem Berufsalltag zählen ebenso Unfalltote wie solche, die erst nach Tagen oder Wochen entdeckt wurden. "Für uns ist das wie ein Adventkalender – hinter jeder Tür wartet eine Überraschung", sagt Leopold Dienstl, der mit 23 Dienstjahren so einige Euphemismen im Wortschatz angespart hat. Dienstl nennt sich und seine Abholpartie "die Front".

Der Abholdienst im Keller des AKH Wien.
Foto: Maria von Usslar

Jeden Werktag hält der Zentralfriedhof zwei Termine für die Sozialbegräbnisse frei, einen für Verstorbene mit Bekenntnis und einen für diejenigen ohne. 8:10 und 8:20 Uhr. Dann läuten die Glocken. Erika Jaschek wird gemeinsam mit einer anderen Frau von Groschner und seinen Kollegen in dunkelgrauen Talaren und mit hohen Mützen, wie sie Chauffeure großer Limousinen tragen, in die Aufbahrungshalle geschoben.

Anders als bei Toten mit Religionsbekenntnis wartet dort kein Pfarrer auf sie. Ein Arrangeur gibt jeweils zwei rote und eine weiße Rose auf den Sarg und zündet eine Kerze an, das Lebenslicht.

Die meisten Bestatter bleiben für immer

Groschner stellt sich in den Halbkreis zu seinen Kollegen und schweigt für eine Minute andächtig. Ob er denn noch nie losgelacht habe, ist tatsächlich eine Frage, die er von Freunden oft gestellt bekommt – könne doch sein, "dass mal irgend was Komisches passiert". "Das geht einfach nicht!", antwortet dann der alleinerziehende Vater und gelernte Elektromechaniker aus dem Burgenland.

Nachdem ihm und rund 800 weiteren Kollegen der Job gekündigt worden war, riet ihm ein Freund zu einem Schnuppertag als Bestatter. Laut Dienstl, dem Kollegen vom Abholdienst, rennt man am zweiten Tag davon oder bleibt für immer. Inzwischen nennt auch Groschner die Kollegen "Familie" – man wachse automatisch "durchs Drüber-Reden-Müssen" zusammen.

Nach einer Schweigeminute und einer Verbeugung für Erika Jaschek heben die Bestattungsgehilfen den Sarg auf ein Transportgestell und schieben ihn in den Elektroleichenwagen, der mit leisem Surren voranfährt. Der Auspuff hinterlässt weiße Dampfwolken, die gemächlich hinterherschreitenden Bestatter ebenfalls. Es hat minus ein Grad bei Sonnenschein.

Der Zentralfriedhof ist lebendig

Überirdisch gesehen ist der Zentralfriedhof ein lebendiger Ort: Eine kanadische Touristengruppe mit rot-weißen Trainingsjacken ist damit beschäftigt, sich zu orientieren, etwa um die Gräber von Falco oder Beethoven zu finden. Totengräber radeln auf alten Waffenrädern vorbei, die Schaufel an die Mittelstange geheftet, und zwischen den Grabreihen tummeln sich Eichhörnchen. Krähen hört man immer wieder, die Sonne blendet zu sehr, um sie auch zu sehen.

Der Zentralfriedhof ist auch eine Oase für Wildtiere – Groschner hat bereits Rehe, Wiesel, Fasane und Katzen gesehen.

Bestattung mit Trauerzug.
Foto: Maria von Usslar

Heute herrscht reger Betrieb: 55 Bestattungen. Selbst wenn der Zeitplan völlig durcheinandergerät, die Schweigeminute hält 60 Sekunden, der Schritt zum Grab bleibt gemächlich. "Da fährt die Eisenbahn drüber", rühmt sich das städtische Unternehmen, das auch die Habsburger unter die Erde bringt.

Vor dem Tod sind alle gleich. Die Bestatter sind verpflichtet, die Toten nach einer Fünf-Tage-Frist zu begraben. Einäscherung auf Anordnung, das gibt es nicht. Zehn Jahre bleibt das Armengrab bestehen. Anstelle eines Grabsteins wird eine einfache Holztafel mit Namensschild auf Kopfhöhe in den Sandhügel gesteckt. In Frau Jascheks Parzelle steht eine solche Tafel auf bald jedem dritten Grab. Immerhin. Früher gab es einen eingemauerten Bereich, da waren die Armen noch unter sich.

Foto: Maria von Usslar

Bei der "Nachbarin" haben sich zwei Trauergäste eingefunden, die vielleicht für die rund 2.000 Euro Begräbniskosten aufkommen wollen, ansonsten zahlt die Stadt. Dafür liegt dort nun ein Liliengesteck, dem nach wenigen Minuten der Frost Farbe und Stehkraft raubt.

Erst als Groschner wieder im Aufenthaltsraum neben der Aufbahrungshalle sitzt, legt er seine Trauermiene ab. Dort hockt auch ein schwarzer Geier mit Weihnachtsmütze, und ein Schild am Kasten besagt, manche Menschen seien der lebende Beweis dafür, dass Gehirnversagen nicht unmittelbar zum Tod führe.

Ob Galgenhumor ihm die Arbeit erleichtere? "Jein!" – Groschner weiß nicht, was er sagen soll. Die Antwort fällt dem Abholdienst etwas leichter: "Der Humor ist tiefer." Dienstl ist froh, dass er mit zwei Kollegen im Auto sitzt und dort nach einem Hausbesuch nicht nur eine Zigarette nach der anderen anstecken, sondern auch den einen oder anderen Spruch fallen lassen kann.

Wenn die Nachbarn die Truppe beim Abholen nicht bemerken, ist das ein Zeichen dafür, alles richtig gemacht zu haben. Im Krankenhaus gibt es eine eigene Zufahrt für sie. Wenn Angehörige hinter der Tür warten, müssen auch Dienstl und seine Kollegen Feingefühl vorweisen: "Man erwischt sie schließlich im schmerzhaftesten Moment."

Bestatter verlieren Angst vor eigenem Tod

Seit Groschner und Dienstl Menschen beerdigen, haben sie keine Angst mehr vor dem Tod. "Das kann ja nur eine Befreiung sein", denkt sich Groschner beim Anblick von besonders alt gewordenen Toten. "Hundertundzwei, na bumm, super!" Irgendwann sei es doch genug, sagt Groschner eher reflektierend als abgeklärt.

Nur an Kinderleichen könne sich keiner gewöhnen. Da bleibe immer das Warum: "Das will man nicht kapieren", sagt Groschner. Auch Dienstl, der schon ein Vierteljahrhundert die Verstorbenen holt, tut sich mit Kindern noch immer schwer. Auch weil ihn der Gedanke verfolgt, man nehme sie den Eltern weg.

Trotzdem wollen beide keinen anderen Job mehr: "Das ist eine gute Aufgabe, jemandem den letzten Weg schönmachen", findet Groschner.

Dietmar Groschner (li.) und seine Kollegen vor dem Weg zum Grab.
Foto: Maria von Usslar

Groschner hat Angst vor Höhe und Geschwindigkeit, aber dem Tod in die Augen blicken kann er: "Mich macht keiner nervös." Manchmal würden die Angehörigen auszucken, da müsse man trotzdem den Respekt wahren, schließlich ist es für alle eine Ausnahmesituation.

Von sich aus spricht Groschner die Trauergemeinde nie an, aber besonders bei ungewöhnlichen Fällen will er mehr erfahren. Dann hofft er auf ein paar Worte vom Pfarrer oder von den Trauernden: "Die meisten wollen eh reden, stehen da und murmeln Sätze wie: 'Papa hat immer tarockiert."

Bei Erika Jaschek kann er sich nur anhand ihrer Erscheinung ausmalen, was sie für ein Leben gelebt hat, ob sie "schon vor fünf vier Bier getrunken hat", aber das sei zu oberflächlich für den allerletzten Eindruck. Vor Neugier googeln kommt ihm nicht in den Sinn. "Doch, einmal: bei Hedy Lamarr, 2014." (Maria von Usslar, 31.10.2016)