Kurz vor seinem Tod hat er noch selbst, gemeinsam mit seinem Halbbruder, das Grab hergerichtet, das Kreuz vom Rost befreit und frisch gestrichen.

Foto: Gerhard Zeillinger

Sowieso haben Dichtergräber ihr Eigenleben: Gottfried Benns Grab auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem.

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Die Grabstätten von Nestroy, ...

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... Werfel ...

... und Jandl auf dem Wiener Zentralfriedhof.

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Irgendwann wenige Wochen nach seinem Tod war ich aus purer Neugier auf den Grinzinger Friedhof gegangen. Ich wusste nicht, wo das Grab lag, und hatte aber nicht lange suchen müssen: Der frische Grabhügel, wie er im Fernsehen zu sehen war, in Blickweite der Turm der Kaasgrabenkirche, das waren taugliche Anhaltspunkte, außerdem wurde ich, es war zur Mittagszeit, an dem Grab schon erwartet – zwei mir fremde Männer standen wie Wächter davor. Ich weiß noch, dass sie mir schon von weitem aufgefallen waren, weil der eine ein Billa-Sackerl in der Hand trug. Die Szenerie schien mir merkwürdig genug. Als ich vor das Grab trat, machte der Herr mit dem Sackerl einen Schritt auf mich zu, auf den Erdhügel deutend, sagte er wichtigtuerisch mit einem theatralischen Seufzen: Da liegt er, der Thomas! Ich nickte, sagte beiläufig, ich weiß, und wollte mich auf ein Gespräch mit ihm nicht einlassen. Irgendetwas gab der Herr mit dem Sackerl noch von sich, ich hörte nicht mehr zu, der andere stand schweigend daneben.

Thomas Bernhard war am Vormittag des 16. Februar 1989 schnell und heimlich beerdigt worden, da war sein Tod noch gar nicht bekanntgegeben, dennoch gab es bereits Gerüchte. Als ich später las, dass neben seinen Geschwistern und seinem Stiefvater auch noch "einige Herren, die sich nicht vorgestellt haben", zugegen waren, dachte ich, dass das der Mann mit dem Plastiksackerl und sein stummer Freund gewesen sein könnten, und ich stellte mir vor, dass die beiden seltsamen Männer seither jeden Tag auf den Grinzinger Friedhof kamen, um allfällige Besucher darauf aufmerksam zu machen, dass er hier liege, der Thomas ...

Erst auf den zweiten Blick

Damals stand noch kein Name auf dem Grab. Klappt man heute den kleinen am Grabkreuz angebrachten Schrein auf, kann man auf einer kleinen Bronzetafel neben Bernhards Namen den seines "Lebensmenschen" Hedwig Stavianicek und ihres Ehegatten Franz lesen. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass es sich dabei um eine Farbkopie handelt. Die Originaltafel, wie man vor zwei Jahren erfuhr, wurde nämlich gestohlen – offenbar wird auch um Thomas Bernhard ein Devotionalienkult getrieben, wenngleich noch ein harmloser, denkt man an die begehrten Schädelknochen berühmter Männer, die irgendwann aus deren Gräbern verschwanden und erst viel später wieder auftauchten, oder an die Asche Truman Capotes, die erst kürzlich, allerdings ganz legal, um rund 40.000 Euro versteigert wurde. Die Tafel von Bernhards Grab wurde nie zurückgestellt und auch nicht mehr erneuert. Vielleicht waren es ja doch keine literaturkundigen Andenkensammler, sondern ganz gewöhnliche Buntmetalldiebe, die immer wieder auf der Suche nach Kupfer und Messing Friedhöfe heimsuchen. Aber nicht nur das: Jahre zuvor war das barocke Grabkreuz schon einmal durch einen Vandalenakt zerstört worden, irgendjemand hatte offenbar das Bedürfnis, sich an Bernhard abzureagieren. Was wohl der Herr mit dem Sackerl dazu gesagt hätte?

Das Grab (Gruppe 21, Reihe 6, Nr. 1) ist bis heute denkbar einfach, es hat keine Einfassung und ist mit Efeu bedeckt. Diese Schlichtheit beeindruckt, sie passt zu Bernhard, der in einem "unbearbeiteten Sarg" beerdigt werden wollte und sich ein Ehrengrab ausdrücklich verbeten hatte. Kurz vor seinem Tod hat er noch selbst, gemeinsam mit seinem Halbbruder, das Grab hergerichtet, das Kreuz vom Rost befreit und frisch gestrichen. Das ist auch nicht alltäglich. Und dann noch dieser eine Satz in Heldenplatz, seinem letzten Werk: "auf dem Grinzinger Friedhof liegen / die österreichischen Geistesmenschen begraben". Alles von langer Hand geplant ...

Übrigens liegt in Grinzing (Gruppe 10, Reihe 2) auch Heimito von Doderer, der Dominator der Fünfziger- und Sechzigerjahre, nach dessen Tod Thomas Bernhard gesagt haben soll, dass nun sein (Bernhards) Stern am Literaturhimmel aufgehen werde. "Hic et nunc / semper paratus", steht auf Doderers Grabstein: Hier und jetzt, immer bereit. Aber was sagt das schon, wenn man einmal tot ist? Und was bleibt überhaupt am Ende? – Im Antiquariat Deuticke, das es auch nicht mehr gibt, habe ich vor langer Zeit die vierbändige Werkausgabe von Gottfried Benn aus dem Jahr 1959 gekauft. Vielleicht hatte es mir der Eintrag eines früheren Besitzers auf dem Vorsatzblatt des ersten Bandes angetan: "Immergrün vom Grabe Gottfried Benns / 27. X. 1981". Das bezog sich auf ein beigelegtes gepresstes Blatt. Als ich die Benn-Gesamtausgabe zu Hause aus meiner Tasche nahm und ins Regal stellte, war das Immergrün schon nicht mehr da, das Blatt war vermutlich noch im Antiquariat aus dem Buch gefallen. Viele Jahre später wollte ich mich auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem vergewissern, dass auf seinem Grab immer noch Immergrün wächst. Aber als ich dorthin unterwegs war, an einem Nachmittag im Dezember, und in Dahlem-Dorf auf den nächsten Bus wartete, hatte mich die Dämmerung eingeholt, es wäre sinnlos gewesen, auf einem finsteren Friedhof ein Grab zu suchen, dessen Lage ich nicht kannte. Ich hatte schon tags zuvor auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg vergeblich nach dem Grab Rahel Varnhagens gesucht ...

Frauen haben das Nachsehen

Ihren berühmten Zeitgenossen Heinrich von Kleist findet man dagegen leicht, er liegt auf keinem Friedhof, sondern wurde dort begraben, wo er sich am 21. November 1811 gemeinsam mit Henriette Vogel erschossen hatte, am Kleinen Wannsee. Das sandige Uferstück in Sichtweite der Wannseebrücke ist von Eichen und Kiefern bewachsen, ein stiller Ort, wenn nicht gerade die S-Bahn zu hören ist, die nicht weit von hier Richtung Potsdam fährt. Als ich im Dezember 2001 zum zweiten Mal dort stand, lagen noch die Kränze der Kleist-Gesellschaft zum 190. Todestag, und auf der Grabsteinsteinkante war ein Strauß roter Rosen abgelegt, sie waren steifgefroren, eine schwarze Schleife hing über den Stein, darauf stand mit weißer Kreide "in memoriam Henriette Vogel" geschrieben, wohl als stummer Protest, dass jene Frau, die ebenfalls hier begraben liegt, ungenannt blieb. Das rief irgendwann nicht nur Feministinnen auf den Plan, und seit 2011 findet sich endlich auch ihr Name auf dem Stein.

Dass Frauen in Dichtergräbern oft das Nachsehen haben, war lange Zeit auch dem Grabstein Johann Nestroys auf dem Wiener Zentralfriedhof zu entnehmen. Mehr als hundert Jahre lang war nur sein Name auf dem Stein gestanden, obwohl hier auch seine Lebensgefährtin Marie Weiler begraben liegt. Erst 2004 wurde auch ihr Name in den Stein geschrieben, und zwar so, als wäre er immer schon dort gestanden.

Aber haben Ehrengräber nicht von vornherein eine verkürzte Wahrheit? Nestroy lag ursprünglich in einem anderen Grab, auf einem anderen Friedhof. Eigentlich starb er ja in Graz, 1862, wurde nach Wien überführt und auf dem Währinger Friedhof zur scheinbar letzten Ruhe gebettet. Das Begräbnis damals war ein Volksauflauf, Erfrischungen wurden gereicht – eine "schöne Leich", wie man in Wien sagt, für einen, dessen Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden bald legendär wurde. Dann wurde der Währinger Friedhof 1890 aufgelassen, Nestroys Leiche und die seiner Geliebten übersiedelten auf den "Zentral". So war es auch mit Grillparzer geschehen, allerdings wurde er auf den Hietzinger Friedhof umgebettet, wo heute ein monumentaler Granit schwer auf sein Nachleben drückt.

Dass im Tod oft noch gereist wird, manchmal weit, haben offenbar viele Dichter gemeinsam. Kafka musste 1924 den Weg von Kierling nach Prag auf sich nehmen, Ingeborg Bachmann 1973 den noch viel weiteren von Rom nach Klagenfurt. War Rom nicht ihre Lieblingsstadt gewesen? Bei Georg Trakl, 1914 in Krakau verstorben, geschah der Umzug mit einiger Verzögerung. Zunächst wurde er auf dem Rakowicki-Friedhof in Krakau begraben, ehe er 1925 nach Tirol, auf den Friedhof der Gemeinde Mühlau bei Innsbruck, überführt wurde. Warum eigentlich? Auch Ödön von Horváth durfte nicht bleiben, wo er war. Seit 1938 – ein Ast hatte ihn auf den Champs-Élysées erschlagen – ruhte er auf dem Pariser Friedhof Saint-Ouen, bis der Gemeinderat von Wien 1988 nicht davon abzubringen war, ihn auf den Heiligenstädter Friedhof "heimzuholen". Dabei stellte sich heraus: Es waren nur noch wenige Knochen auffindbar gewesen. Und so viel Aufheben darum.

Ähnlich war es zuvor schon Franz Werfel ergangen: Zwei Jahre nach seinem Tod 1945 im kalifornischen Beverly Hills und seiner Bestattung auf dem Rosedale Cemetery reservierte ihm der damalige Wiener Bürgermeister Theodor Körner ein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof, das jedoch leer blieb. Bis das Kulturamt der Stadt Wien und die Österreichische Gesellschaft für Literatur in den 1970er-Jahren noch einmal aktiv wurden. Seither, seit dem 21. Juli 1975, ist das Werfel-Grab auf dem Zentralfriedhof besetzt (Gruppe 32 C, Nummer 39).

Gott sei Dank hat diese nationale Störung der Totenruhe nicht Schule gemacht. Joseph Roth liegt immer noch auf dem Friedhof Thiais bei Paris, Stefan Zweig auf dem Cimitéro Municipal von Petrópolis, und auch Musil durfte in der Schweiz bleiben, wo er 1942 starb, allerdings wäre das bei ihm auch schlecht gegangen, nachdem seine Asche in einem Wald bei Genf verstreut worden war. Auch Alfred Polgar, 1955 in Zürich verstorben, liegt immer noch auf dem Friedhof Sihlfeld im Stadtteil Wiedikon. Hat die österreichische Kulturpolitik auf ihn vergessen?

Die in der Fremde blieben

Aber oft blieb von denen, die in der Fremde blieben, so gut wie nichts übrig. Zum Beispiel jene kleine Tafel neben dem Eingang des Friedhofs von Portbou in den Pyrenäen mit der Inschrift "Filòsof Alemany" – auf Katalanisch. Es ist das Einzige, was von Walter Benjamin blieb, ein Grab gibt es nicht mehr, es war schon fünf Jahre nach seinem Tod aufgelöst worden. So flüchtig war auch sein Leben – und am Ende verzweifelt und ausweglos: Am 25. September 1940 war hier, an der Grenze, seine Flucht zu Ende gegangen, nachdem die spanischen Grenzwächter ihm wegen des fehlenden französischen Ausreisevisums die Weiterreise verweigerten. Als ob er damit gerechnet hätte, trug Benjamin eine ausreichende Dosis Morphium mit sich. Der kleine Ort am südlichen Ende des Golfe du Lion wurde zur Endstation seines Lebens, der terrassenförmig auf einem Bergrücken liegende Friedhof zur Stätte seiner letzten Ruhe, tief unten die blaue Meeresbucht. Was für ein Ausblick, was für ein Grund zu bleiben.

Angenommen, es gibt so etwas wie die Übereinstimmung von Leben und Werk: Zeigt sich die auch im Tod? Wie müsste man sich Dichtergräber dann vorstellen? Etwa das Grab Ernst Jandls (Ehrengrab auf dem Wiener Zentral), das mit einer merkwürdig schwerfälligen Plastik versehen ist. Sieht aus wie ein gehörig aus der Form geratenes Gesicht, eine Art verrutschte Totenmaske. Jandls Kopf? Ein paar Meter weiter das Grab Gert Jonkes, gestorben 2009, seinem Namen ist die Bezeichnung "Dichter" beigefügt und dem Stein ein kindhafter Engel aufgesetzt. Soll das die Unschuld des Schreibenden bezeichnen? Dann wäre noch die Inschrift auf dem in der Wiese liegenden steinernen Balken: "Ein Schluck Gras löscht jeden Durst / Im Inland und im Ausland auch".

Und was heißt das eigentlich? Manchmal sind Grabsprüche Teil der Literatur und sollen das Nachleben im Stein garantieren. Zumindest eine letzte Bedeutsamkeit festschreiben. Etwa wenn auf Franz Theodor Csokors Grabstein einfach nur "Nondum" steht: Noch nicht. Aber worauf noch soll gewartet werden? Der berühmteste Grabspruch ist wohl auch der rätselhafteste: "Rose, o reiner Widerspruch, / Lust, niemandes Schlaf zu sein / unter soviel Lidern." So steht es auf Rilkes Grab auf dem kleinen Bergfriedhof von Raron im Wallis. Er starb früh, aber nicht unvollendet. Vielleicht haben sich deswegen so viele Rilke-Interpreten in ihren Deutungen tief ins Mystische verstiegen, obwohl es eigentlich verständlich genug sein könnte: Niemandes Schlaf sein zu wollen, das ist doch der Wunsch, ins Nichts zu verschwinden, ins Nie-gewesen-Sein? Und war nicht das Leben selbst der Widerspruch? – Um wie viel einfacher, handfester, und ja, überzeugender der Satz, der auf dem Grabstein der Kinderbuchautorin Mira Lobe steht: "Warum sich ein Mensch wie ein Mensch benimmt, ist unwichtig. Hauptsache – er tut es!" Sie liegt auf dem neuen jüdischen Friedhof in Wien, Zentralfriedhof, 4. Tor, begraben. Man frage also nicht.

Nachleben in Stein

Sowieso haben Dichtergräber ihr Eigenleben, und das ist natürlich auch zeitbedingt. Auf dem für mich schönsten Friedhof der Welt, dem Cimitero acattolico in Rom, kann man unter Pinien und Zypressen den beeindruckendsten Denkmalen des Todes und den berührendsten Zeugnissen der Romantik begegnen. Hier liegen Goethes Sohn, der schwäbische Dichter und Hölderlin-Biograf Wilhelm Waiblinger oder der englische Dichter Percy Shelley begraben. "COR CORDIUM" steht auf einer in der Wiese liegenden weißen Marmorplatte: Herz der Herzen – so beginnt ein Sonett von Swinburne ("O heart of hearts ..."), theatralisch genug, aber das war ja auch sein Ende, denn Shelley ertrank 1822 im Meer vor Viareggio, und weil man die Pest fürchtete, wurde sein nach Tagen angespülter Leichnam noch am Strand verbrannt, seine Schriftstellerfreunde Byron, Trelawny und Leigh Hunt zündeten den Scheiterhaufen an.

Das Grab Trelawnys befindet sich übrigens gleich neben dem Shelleys (er starb 1881 in England und wurde hierher überführt), und auch John Keats, gestorben 1821 in Shelleys Wohnung in Rom neben der Spanischen Treppe, liegt auf dem Friedhof begraben, auch sein Grabstein trägt eine lange, denkwürdige, von ihm selbst noch aufgesetzte Inschrift: "This Grave contains all that was Mortal of a YOUNG ENGLISH POET ..." Seinen Namen dagegen muss man auf dem Nachbargrab suchen, dem seines treuen Freundes Joseph Severn, der ihn um 58 Jahre überlebte: "Devoted friend and death-bed companion of John Keats ...". Was für eine Ansage.

Aber zurück zu Shelley: Da ist noch die Sache mit seinem Herz, das nicht verbrannte. Seine Freunde überbrachten es der Witwe – Mary Shelley, die Autorin des Frankenstein -, die das Herz, das nicht verbrennen wollte, ihr Leben lang aufbewahrte und mitnahm, als sie nach England zurückkehrte. Ein Jahr nach ihrem Tod – sie starb 1851 – fand man in ihrer Schreibtischlade ein kleines seidenes Päckchen mit den Überresten seines Herzens. Es war eingewickelt in ein Blatt Papier, ein Gedicht ihres Mannes: "Kiss me, so long but as a kiss may live ..." (Gerhard Zeillinger, Album, 31.10.2016)